Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
mich.
»Haben Sie Schwierigkeiten hier unten?«
»O Scheiße. Wer sind Sie?«
Er war in mittleren Jahren, die Hände in den Taschen, sein Gesichtsausdruck schüchtern. »Frank Isenberg von Appartement drei«, sagte er entschuldigend. »Hat jemand eingebrochen? Soll ich die Polizei rufen?«
»Nein, tun Sie das erst mal nicht. Lassen Sie’s mich oben mit Grace besprechen. Das scheint der einzige Verschlag zu sein, der beschädigt worden ist. Vielleicht waren es nur Kinder«, sagte ich, immer noch klopfenden Herzens. »Sie hätten sich doch nicht an mich heranschleichen müssen.«
»Entschuldigung. Ich dachte nur, Sie bräuchten vielleicht Hilfe.«
»Klar, na jedenfalls vielen Dank. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich irgend etwas brauche.«
Er blieb noch einen Augenblick stehen, um das Chaos zu betrachten, aber dann zuckte er die Achseln und ging wieder nach oben.
Ich sah mir die hintere Kellertür an. Das Glas war herausgebrochen worden, und jemand hatte hindurchgelangt und den Riegel zurückgeschoben. Natürlich stand die Tür weit offen. Ich schloß sie und schob den Riegel wieder vor. Als ich mich umdrehte, kam Grace zaghaft die Treppe herunter, noch immer blaß im Gesicht. Sie hielt sich am Geländer fest. »Elizabeths Sachen«, sagte sie leise. »Die haben all ihre Kisten geplündert, all die Sachen, die ich aufgehoben habe.«
Sie ließ sich auf die Treppe sinken, rieb sich die Schläfen. Ihre großen braunen Augen sahen verletzt aus, bestürzt, mit einem Anflug von etwas anderem — ich hätte schwören können, es war Schuldbewußtsein.
»Vielleicht sollten wir die Polizei rufen«, sagte ich, wenn ich mir auch gemein dabei vorkam. Ich fragte mich, wie sehr sie Lyle eigentlich in Schutz zu nehmen gedachte.
»Meinen Sie wirklich?« sagte sie. Ihr Blick flatterte unschlüssig hin und her, und sie nahm ein Taschentuch heraus und drückte es auf ihre Stirn, wie um Schweißperlen zu entfernen. »Es muß ja nichts fehlen«, sagte sie hoffnungsvoll. »Vielleicht ist gar nichts weg.«
»Oder wir merken den Unterschied nicht«, sagte ich.
Sie raffte sich auf und ging zu dem Verschlag, überschaute die wirren Haufen von Papieren, Stofftieren, Kosmetika, Unterwäsche. Sie bückte sich und hob aufs Geratewohl Papiere auf, um sie zusammenzulegen. Ihre Hände zitterten immer noch, aber ich glaubte nicht, daß sie verängstigt war. Erschrocken vielleicht, und von Gedanken verfolgt.
»Ich nehme doch an, daß Raymond noch schläft«, sagte ich.
Sie nickte, und die Tränen kamen ihr, als das Ausmaß der Verwüstung mehr und mehr zutage trat. Ich spürte, wie ich Mitleid empfand. Selbst wenn Lyle es getan hatte, war es doch niederträchtig, ein Vergehen an etwas, das Grace kostbar war. Sie hatte auch so schon genug gelitten. Ich legte die Taschenlampe weg und begann einige Dinge wieder in die Kartons zu packen: Modeschmuck, Feinwäsche, alte Ausgaben von Seventeen und Vogue , Schnittmuster für Kleidungsstücke, die Libby wahrscheinlich nie angefertigt hatte. »Dürfte ich diese Kartons mal mitnehmen und sie heute abend durchgehen?« fragte ich. »Ich kann sie Ihnen morgen früh wiederbringen.«
»Na ja. Na schön. Ich wüßte jedenfalls nicht, was es jetzt noch schaden soll«, murmelte sie, ohne mich anzusehen.
Es schien mir hoffnungslos. Wer sollte bei diesem Wirrwarr beurteilen können, was fehlte? Ich mußte die Kartons durchgehen und Zusehen, ob ich etwas entdeckte, aber die Aussichten standen nicht gut. Lyle konnte nicht lange dort unten gewesen sein — falls er es gewesen war. Er wußte, daß ich wegen der Sachen zurückkommen wollte, und als er früher am Tag bei ihr erschienen war, hatte Grace ihm wahrscheinlich gesagt, um welche Zeit genau ich eintreffen würde. Er hatte bis zum Einbruch der Dunkelheit warten müssen, und wahrscheinlich dachte er, wir würden uns länger oben aufhalten, bevor wir hinuntergingen. Trotzdem spielte er riskant — sofern ihm das nicht einfach egal war. Und wieso hatte er nicht in den drei Tagen eingebrochen, während ich fort war? Ich dachte an seine Unverschämtheit zurück, und ich argwöhnte, daß es ihm eine gewisse Befriedigung bereiten könnte, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen, selbst wenn er dabei ertappt würde.
Grace half mir, die Kartons zum Auto zu schaffen, sechs insgesamt. Ich hätte das Zeug bei meinem ersten Besuch mitnehmen sollen, dachte ich, aber ich konnte mir schlecht vorstellen, mit einem Rücksitz voller Pappkartons nach Vegas zu fahren.
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