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Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Titel: Kinsey Millhone 04 - Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Nase.
    »Tut mir leid, daß ich das alles wieder aufwärmen mußte«, entschuldigte ich mich. »Ich habe nie Kinder gehabt, aber ich kann mir nichts Schmerzlicheres vorstellen, als eines zu verlieren.«
    Ihr Lächeln kehrte zurück, flüchtig und verbittert. »Ich will Ihnen sagen, was noch schlimmer ist: zu wissen, daß es da draußen einen Mann gibt, der ein paar Monate im Gefängnis absitzt, nachdem er fünf Menschen umgebracht hat. Wissen Sie, wie oft er wegen Trunkenheit am Steuer aufgegriffen worden ist vor diesem Unfall? Fünfzehnmal! Er hat ein paar Strafen bezahlt. Einmal hat er dreißig Tage abgesessen, aber die meiste Zeit...« Sie brach ab. Ihr Ton änderte sich. »Ach, zum Teufel. Was macht das noch für einen Unterschied? Es ändert sich ohnehin nichts, und aufhören wird das auch nie. Ich werde Wayne erzählen, daß Sie dagewesen sind. Vielleicht weiß er, wo Daggett war.«

12

    Ich saß im Wagen und schauderte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich eine Befragung so angestrengt hatte. Daggett mußte einfach umgebracht worden sein. Ich sah einfach nicht, wie es sonst gelaufen sein sollte. Was ich nicht wußte, war, wie ich meine Gedanken in Ordnung bringen sollte. Normalerweise ist bei mir moralisch alles klar, wenn es um Mord geht. Ganz gleich, was man dem Opfer vorwerfen kann, ein Mord ist falsch, und die Strafe, die man dem Täter auferlegt, sollte besser so hart sein, daß sie ein Gegengewicht zur Schwere des Verbrechens darstellt. Aber in diesem Fall schien das ein zu einfacher Standpunkt zu sein. Es war Daggett, der die Welt aus den Fugen gebracht hatte. Seinetwegen waren fünf Menschen gestorben, so daß sein Tod, durch welches Instrument auch immer, den Planeten wieder aufrichtete, eine moralische Ordnung herstellte. In diesem Augenblick wußte ich immer noch nicht, ob sein Wunsch zur Wiedergutmachung ernst gemeint oder nur Teil einer ausgeklügelten List war. Ich wußte nur, daß ich in einer Schlinge gefangen war und eine Rolle zu spielen hatte, obwohl ich keine Ahnung hatte, welche das war.
    Ich ließ den Wagen an und fuhr zu meiner Wohnung zurück. Der Himmel bewölkte sich wieder. Es war fünf Uhr vorbei, und schon schien sich ein verfrühtes Dämmerlicht auf die Berge zu senken. Ich hielt vor meiner Wohnung und stellte den Motor ab. Ich warf einen Blick zu meinen Fenstern, die dunkel waren. Ich war nervös und angespannt und noch nicht bereit, nach Hause zu gehen. Aus einem Impuls heraus ließ ich den Wagen wieder an und fuhr zum Strand, angezogen von dem Geruch von Salz in der Luft. Vielleicht würde mir ein Spaziergang bei meiner Ratlosigkeit guttun.
    Ich fuhr auf einen der öffentlichen Parkplätze, hielt, schlüpfte aus Schuhen und Strumpfhose und warf beides, zusammen mit meiner Handtasche, auf den Rücksitz. Ich schloß meine Windjacke und sperrte den Wagen ab, schob die Schlüssel in meine Jackentasche und überquerte den Fahrradweg auf dem Weg zum Strand. Der Ozean schimmerte silbrig, aber die heranschlagenden Wellen waren von einem schmutzigen Braun, und der Sand war übersät mit Steinen. So war der Winter Strand, immer mit der Bewegung des Sandes tauchten dunkle Brocken auf. Möwen zogen über meinem Kopf dahin, suchten in den donnernden Wogen nach Zeichen eßbaren Meereslebens.
    Ich schlenderte über den feuchten Sand, den Wind im Rücken. Ein Windsurfer klammerte sich an den Baum vor einem hellgrünen Segel, stemmte sich gegen die Macht des Windes, sein Brett raste auf den Strand zu. Zwei große Fischerboote stampften in den Hafen. Überall umgab mich ein Gefühl von Bedrohung und Dringlichkeit — das zerfetzte Weiß der Sturmbrandung, das dunkler werdende Grau des Himmels. Jenseits des Hafens griff der Ozean gnadenlos den Strand an, hämmerte mit grollender Monotonie gegen die Wellenbrecher. Gischt sprühte wuchtig nach oben. Ich konnte fast das Platschen hören, wenn eine Welle nach der anderen gegen die Betonmauer auf der Landseite schlug.
    Ich kam am Eingang zur Werft vorbei. Vor mir wurde der Strand breiter, bog nach links ab, wo sich die kahlen Masten von Segelbooten wie Metronome im Wind neigten. Der Sand war hier weicher, auch tiefer, und das Gehen wurde anstrengend. Ich machte kehrt und ging ein paar Schritte rückwärts, versuchte, mich zu orientieren. Irgendwo hier am Strand war die Stelle, wo man Daggetts Leiche gefunden hatte. In den Nachrichten war das Bild der Stelle kurz gezeigt worden, und ich hoffte jetzt, daß ich sie wiedererkennen würde. Ich nahm

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