Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
Aufzeichnungen durchzulesen und mit einem geborgten Kugelschreiber ein Detail nach dem anderen auf die Karteikarten zu übertragen. In mancher Hinsicht war es reine Fleißarbeit. Ich konnte mir produktiv und tüchtig vorkommen und war zugleich vor den Augen der Öffentlichkeit geschützt. Meine Notizen zu übertragen hatte außerdem den Vorteil, dass es mich von dem Unbehagen ablenkte, das ich empfand. Während ich mich am Abend zuvor noch nach Hause gesehnt hatte, konnte ich mir nun nicht mehr vorstellen, den Schwanz einzuziehen und wegen Rafers versteckter »Empfehlung« in bezug auf meine persönliche Sicherheit davonzulaufen. Was machte ich also? Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass ich getan hatte, was ich konnte. Ich hatte mit mir selbst vereinbart, so lange Spuren zu verfolgen, bis ich nicht mehr weiterkam. Wenn ich auf unüberwindliche Barrieren stieß, konnte ich wenigstens reinen Gewissens nach Hause fahren. Doch bis dahin hatte ich einen Auftrag, und ich war fest entschlossen, ihn zu erfüllen. Ja, und wie, du Angsthase, dachte ich.
Ich machte anderthalb Päckchen Karteikarten durch, ohne auf umwälzende Enthüllungen zu stoßen. Dann mischte ich sie zweimal, legte sie wie eine Patience aus und suchte Reihe für Reihe nach aufschlußreichen Einzelheiten ab. Ich hatte mir zum Beispiel no tiert, dass Cecilia mir erzählt hatte, sie sei an dem Abend, als Tom starb, gegen zehn Uhr nach Hause gekommen. Sie hatte gesagt, sie hätte den Krankenwagen gesehen, aber keine Ahnung gehabt, dass er für ihren Bruder bestimmt gewesen war. Könnte sie die Frau gesehen haben, die die Straße entlanggegangen war? Mir fiel ein, dass die besagte Frau ja womöglich in Nota Lake Cabins gewohnt hatte. In diesem Fall hatte ihr Spaziergang womöglich nichts mit Tom zu tun gehabt. Auf jeden Fall war es sinnvoll, einmal nachzufragen, nur um diese Möglichkeit auszuschließen.
Cecilia verspätete sich. Statt halb zwölf war es schon fast Viertel nach, als sie endlich zur Tür hereinkam. Sie hatte zum Kirchgang ein ausgebeultes blaues Tweedkostüm angezogen, an dessen Revers eine Anstecknadel mit mehreren Hummeln saß. Die weiße Bluse darunter war mit einem bauschigen Spitzenbesatz am Kragen versehen. Sie zeigte keinerlei Erstaunen, als sie mich sah, und in meinem Verfolgungswahn bildete ich mir gleich ein, dass sie von meiner Anwesenheit unterrichtet worden war. Sie öffnete die Halbtür zum Büro, schloß sie hinter sich, stellte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und wandte sich zu mir um. »Also, was kann ich für Sie tun? Ich habe gehört, dass Sie bei Selma wohnen, also wollen Sie sich ja wohl nicht nach einer Hütte erkundigen.«
»Ich arbeite immer noch an dieser Geschichte um Toms Tod.« »Ist morgen sieben Wochen her. Schwer zu schlucken«, sagte sie. »Können Sie sich vielleicht daran erinnern, wer an dem Wochenende damals hier gewohnt hat?«
»Im Motel? Das ist leicht.« Sie griff nach den Meldeunterlagen, leckte ihren Zeigefinger und begann, die Wochen zurückzublättern. Der März wurde zum Februar, als sie die Tage durchging. Die Woche vom ersten Februar erschien. Sie fuhr mit dem Finger eine Namensliste entlang. »Eine Gruppe Skifahrer, vielleicht sechs Personen, in zwei Hütten. Ich habe ihnen Hemlock und Spruce gege ben, so weit weg vom Büro wie möglich, weil ich gleich wußte, dass sie feiern würden. Das machen solche Typen immer. Ich weiß noch, dass sie mehr Bierkästen hier reingeschleppt haben als Gepäck. Haben sich außerdem ständig beschwert: der Wasserdruck, die Heizung. Nichts hat ihnen gepaßt«, sagte sie und warf mir einen Blick zu.
»Sonst noch jemand? Irgendwelche alleinreisende Frauen?« »Soll heißen?« »Soll gar nichts heißen, Cecilia«, erklärte ich geduldig. »Ich gehe nur dem Bericht der Highway Patrol nach. Tennyson behauptet, er habe eine Frau die Straße entlanggehen sehen. Womöglich ist sie nur eine Ausgeburt seiner Phantasie. Vielleicht hatte sie gar nichts mit Tom zu tun. Es wäre hilfreich, sie zu finden, also hoffe ich trotz aller Aussichtslosigkeit, dass sie seinerzeit hier übernachtet hat. Dann können Sie mir sagen, wo ich sie erreichen kann.« Sie sah erneut in ihre Meldeunterlagen. »Nee. Ehepaar aus Los Angeles. Haben sie zumindest behauptet. Die zwei habe ich nur gesehen, wenn sie aus dem Bett gekrochen sind, um etwas zu essen. Und dann noch eine Familie mit zwei Kindern. Die Frau saß im Rollstuhl, also bezweifle ich, dass sie es war, die er gesehen
Weitere Kostenlose Bücher