Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
mit dem Wort BESUCHER gekennzeichnet war. Dann schloss ich ihn ab, trottete über das platt getretene Gras zum Eingang, ging durch die doppelte Glastür und betrat den Hauptkorridor. Es war totenstill, obwohl sich irgendwo im Haus Schüler aufhalten mussten. Die containerartigen Klassenräume draußen waren nicht groß genug für eine Aula oder Turnhalle. Ich nahm an, dass ein Gutteil des Unterrichts in diesem Gebäude gehalten wurde. Es roch nach Schweiß und Haarspray, Hormonen und dampfenden Sportschuhen – die Ausdünstungen des Teenagerelends. Schlechte Haut, keine Macht, zu wenig Alternativen, zu starker sexueller Druck und nicht genug Weisheit, um einen über die Runden zu bringen, bis man achtzehn war. Wie viele Leben waren bis dahin aus dem Ruder gelaufen? Mädchen waren schwanger geworden und Jungen in Autos tödlich verunglückt, noch bevor die Bierdosen, die im Fußraum herumkullerten, zum Stillstand gekommen waren.
Vor mir, ein Stück den Flur hinunter, sah ich ein Schild, das zum Direktorat wies. Ich merkte, wie meine Beklommenheit wuchs, so wie es jeden Tag meines Lebens während meiner Schulzeit der Fall gewesen war. Ich war dermaßen daneben gewesen, eine solche Außenseiterin. Überlebt hatte ich, indem ich rebellierte – also Dope rauchte und mit anderen Eigenbrötlern herumhing. Und nun war ich wieder hier, nur dass ich erwachsen war (angeblich) und die Schwelle freiwillig überschritt und nach Antworten auf Fragen suchte, die mir nicht mal im Traum eingefallen wären, als ich noch jung war. Die Schulsekretärin war Anfang dreißig, hatte braune Augen und kurze, seidige Haare im Farbton von Pecannussschalen. Ein Schleier aus Sommersprossen lag über ihrer Nase und den oberen Hälften ihrer Wangen. Sie war lässig gekleidet: beige Hose, kurzärmliger brauner Pullover und flache Schuhe. Auf ihrem laminierten Namensschild stand ADRIANNE RICHARDS und darunter in kleineren Lettern VERWALTUNGSASSISTENTIN. Als sie mich sah, stand sie auf und kam an den Tresen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektivin und komme aus Santa Teresa. Ich arbeite mit zwei Kriminalbeamten an der Identifizierung eines Mordopfers, das im August ‘69 umgekommen ist.«
»Sie meinen hier?«
»Da sind wir uns nicht sicher.« Ich machte einen kurzen Exkurs und schilderte ihr das Mädchen, das wir zu identifizieren suchten. »Wir haben schon mit mehreren hiesigen Zahnärzten gesprochen, weil wir hoffen, sie über ihre alten zahnärztlichen Unterlagen ausfindig machen zu können. Ich komme gerade von Dr. Nettleton. Er glaubt, dass sie Patientin bei ihm war, aber er kann sich nicht an ihren Namen erinnern. Ich dachte, wenn ich mit ein paar Lehrern sprechen könnte, würde sich vielleicht der eine oder andere aufgrund meiner Beschreibung an sie erinnern. Wissen Sie, wer damals schon zum Kollegium gehört hat?«
Sie starrte mich ausdruckslos an. Es war fast sichtbar, wie sie die Möglichkeiten durchkalkulierte. Ich dachte, sie würde etwas sagen, aber ihre Miene verschloss sich, und sie senkte den Blick. »Da müssten Sie mit Mr. Eichenberger sprechen. Das ist der Schulleiter. Alle unsere Schülerakten sind vertraulich.«
»Ich will ja nicht ihre Akten einsehen. Ich möchte nur ihren Namen wissen.« »Mr. Eichenberger erlaubt uns nicht, solche Informationen herauszugeben.«
»Sie meinen, Sie kennen das Mädchen?«
Ihre Wangen hatten Farbe bekommen. »Natürlich nicht. Ich spreche von unseren Grundsätzen.«
Verärgert funkelte ich sie an. Vielleicht war sie es als Verwaltungsassistentin nicht gewohnt, dass sich ihr jemand widersetzte. »Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.«
»Mr. Eichenberger ist der Einzige, der berechtigt ist, über die Akten der Schüler zu sprechen.«
»Schön. Ist er da?«
»Ich kann nachfragen, aber dazu muss ich erst einen amtlichen Ausweis von Ihnen sehen.«
Ich zog meine Brieftasche heraus, klappte sie auf, um ihr die Kopie meiner Lizenz zu zeigen, und schob sie über den Tresen.
»Darf ich die mitnehmen?«
»Solange ich sie wiederbekomme.«
»Einen Moment bitte.«
Sie durchquerte das Büro und ging auf eine geschlossene Tür zu, an der ein Schild mit der Aufschrift LAWRENCE EICHENBERGER, SCHULLEITER hing. Sie klopfte einmal und ging hinein. Nach etwa einer Minute öffnete sich die Tür wieder, und Mr. Eichenberger kam mit Adrianne Richards im Schlepptau heraus. Sie reichte mir meine Brieftasche und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, wo sie
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