Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
unbemerkt. Wäre ich auf die Quorum High gegangen, wäre ich wohl eher mit Pudgie befreundet gewesen als mit Justine oder Cornell. Obwohl Cornell kein Held des Schulsports mehr war, so war er doch ein anständiger, fleißiger Mann, der eine Frau und drei Kinder zu unterhalten hatte. Justine war Vollzeit-Ehefrau und -Mutter, während Adrianne als Verwaltungskraft in derselben Schule arbeitete, die sie früher besucht hatte. Und Pudgie wanderte immer noch regelmäßig ins Gefängnis. Ich für meinen Teil war jetzt eine (mehr oder weniger) ehrenwerte, gesetzestreue Bürgerin, die keine illegalen Drogen konsumierte und es ablehnte, sich irgendwelche brennenden Gegenstände zwischen die Lippen zu stecken. Ich fragte mich, was für eine Stellung Charisse im Rahmen des Gesamtbilds eingenommen hatte. Zumindest hatten wir anderen die Gelegenheit erhalten, später im Leben bessere Entscheidungen zu treffen als im Teenageralter. Alle ihre Möglichkeiten waren 1969 beendet gewesen, und eine der Entscheidungen, die sie getroffen hatte, war ihre letzte gewesen. Als ich den Bericht fertig getippt hatte, mischte ich die Karten und spielte das kleine Spiel, das mir zur Gewohnheit geworden ist. Ich legte die Karten erst nach dem Zufallsprinzip aus, dann wie eine Patience und beobachtete, wie die Ereignisse aussahen, wenn die chronologische Reihenfolge durcheinander kam. Die Wahrheit ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, erst recht nicht, wenn es um Mord geht. Was wie der logische Verlauf von Ereignissen wirkt, kann vollkommen anders aussehen, wenn die Reihenfolge auf den Kopf gestellt wird. Die Polizei geht immer von dem Mord selbst aus und arbeitet sich von da zurück zu den Ereignissen, die der tödlichen Tat vorausgegangen sind. Abgesehen von willkürlichen Tötungen, die heutzutage immer häufiger werden, passieren Morde aus einem Grund. Es gibt ein Motiv – und zwar immer. Wenn man weiß, warum etwas passiert, weiß man in neun von zehn Fällen auch, wer es getan hat.
Ich ging die Karten noch einmal durch, um mich zu vergewissern, dass ich nichts übersehen hatte. Natürlich hatte ich vergessen, Medora noch einmal aufzusuchen und sie zu fragen, warum sie über eine Woche gewartet hatte, um Charisse vermisst zu melden. Ich legte die entsprechende Karte ganz oben auf den Stapel und drehte sie als Erinnerungshilfe um, bevor ich sie alle mit einem Gummiband umwickelte. Es war nebensächlich, und vermutlich gab es eine Erklärung dafür, aber es blieb trotzdem eine Frage, die beantwortet werden musste.
Um fünf Uhr warf ich den Packen Karteikarten oben auf die Mordakte in der Schublade, sammelte die Blätter mit meinem getippten Bericht zusammen, legte sie in einen Aktendeckel und fuhr damit zum Copy-Shop, wo ich sie zweimal kopierte. Als ich auf dem Rückweg zum Motel in östlicher Richtung die Main Street entlangfuhr, sah ich Adrianne Richards in den Supermarkt gehen. Sie hatte ihren Wagen bereits geparkt und marschierte gerade von der Seite auf den Vordereingang zu. Ich bremste und sah zu spät in den Rückspiegel, wobei ich hoffte, der Wagen hinter mir würde mir nicht auf den Auspuff knallen. Abrupt bog ich scharf nach links ab, was einen der anderen Fahrer so verärgerte, dass er mir gleich mit der Faust drohte und für mich unhörbar ein Schimpfwort artikulierte. Ich gestikulierte verlegen und warf ihm eine Kusshand zu.
Ich parkte und ging hinein. Rasch sah ich mich im Gehen um und suchte jeden Gang ab. Schließlich entdeckte ich sie mit dem Einkaufszettel zwischen den Zähnen in der Obst- und Gemüseabteilung, wo sie eine Kiste mit Honigmelonen studierte. Im Wagen hatte sie bereits ein Plastikkästchen mit Cocktailtomaten, zwei Bund Frühlingszwiebeln und einen Blumenkohl, der aussah wie ein zellophanverpacktes Gehirn.
»Hi«, sagte ich. »Ich wollte Sie schon die ganze Zeit sprechen, wusste aber nicht, wie ich Sie erreichen kann. Wie heißt denn Ihr Mann mit Vornamen?«
»Peter. Wir sind geschieden. Er ist in Reno.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich neben Ihnen hergehe?«
»Nein, ist schon recht«, sagte sie. Sie trug Jeans, Turnschuhe und ein Twinset aus rauchblauem Kaschmir. Die Haare hatte sie im Nacken mit einer Spange zusammengefasst. Sie wählte eine Honigmelone aus, roch daran und legte sie in ihren Wagen. Dann ging sie zur Frischtheke weiter, wo sie das Haltbarkeitsdatum auf einer Tüte Magermilch überprüfte und sie anschließend in ihren Wagen legte. »Womit kann ich Ihnen helfen?« »Tja, ich
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