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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Zeit, als sie in meinem Alter waren. Wir machten Spaziergänge an der Seine, auf denen ich mich zwischen ihnen einhakte. Es gelang mir, in diesen Momenten, Arik vollständig zu vergessen.
    Nadeshda und ich hörten manchmal in der Wohnung Nachrichten, wir kannten bald alle an Jugoslawien interessierten Journalisten von Radio France namentlich. Einer sendete besonders gute Berichte. Es stellte sich heraus, dass er mit dem Schriftsteller Danilo Kiš befreundet war und ein Buch über Njegoš, den bedeutendsten montenegrinischen Dichter, geschrieben hatte. Das wusste aber natürlich niemand in Frankreich. Der Mann war nur als sehr guter Kriegsreporter bekannt. Genützt hat ihm das durchaus. Der Krieg machte ihn zwar nicht gerade reich, aber als Nadeshda ihn eines Tages interviewte, weil sie für einen deutschen Radiosender ein Porträt über seinen Freund Kiš schrieb, konnte sie sehen, dass er nicht gerade rechnen musste, um am Ende des Monats seine Miete bezahlen zu können. Sie fragte ihn, ob er gut mit seiner Arbeit über die Runden komme. Er zeigte auf die neuen Schuhe seiner Tochter und sagte, naja, ohne die Kriegsreportagen trüge sie jetzt noch immer ihre alten aufgerissenen Turnschuhe. Es war nichts Neues für uns. Viele verdienten sich in der Zeit des Krieges einiges dazu, und als der Krieg irgendwann zu Ende war, fiel das Zubrot wieder weg. Aber es gab Leute, denen in der Zwischenzeit der Krieg ein neues Auto möglich gemacht hatte, eine größere Wohnung, bessere Anzüge.
    Nadeshda, Hiromi und ich trafen uns auch fast jeden Tag zum Mittagessen in Sophies kleinem Restaurant . Die Besitzerin grüßte uns nun alle mit unseren Namen. Im Vorderbereich des Restaurants hatte sie einen kleinen Gemüseladen. Dort verkaufte sie ihre stadtbekannten bunten Alleskönner-Kapseln, sie bot Misosuppe und Säfte an, die fast so teuer waren wie ein ganzes Mittagessen. Nadeshda und Hiromi waren immer in Eile, sie hatten sich neu verliebt, und ich schaffte es nicht, sie für mehr als zwei Stunden in meiner Nähe zu halten. Kaum waren sie da, blickten sie schon auf die Uhr und rechneten herum, welchen Bus sie nehmen mussten. Auf Mischa Weisband konnte ich jeden Tag zählen. Er kam immer pünktlich in Sophies Restaurant. Mischa trug am liebsten rote Wollpullover oder violettfarbene Hemden, dazu weit geschnittene Cordhosen. Wir warteten oft zusammen beim Gemüse und den teueren Säften auf einen Tisch. Hin und wieder setzte sich Sophie zu uns. Einmal machte sie mich auf eine junge Frau aufmerksam, die genau wie wir jeden Tag kam. Sie komme aus meinem Land, sagte Sophie, sie reise weiter nach Amerika, ob ich sie nicht einmal ansprechen wolle.
    Anfangs widerstrebte mir das und es fiel mir schwer, einen mir unbekannten Menschen anzusprechen und auf ihn zuzugehen, nur weil uns eine Muttersprache verband. Als ich sie dann am nächsten Tag wieder sah, zögerte ich nicht mehr. Ich sprach sie an. Sie hieß Silva, und ich hätte ihr am liebsten ausgeredet, nach Amerika weiterzureisen. Aber sie hatte schon das Ticket für den Flug.
    Genau wie ich und die schöne Alma hatte auch Silva Verwandte im Elften Arrondissement. Sie konnte kein Französisch, dafür aber ein bisschen Deutsch aus ihrer Schulzeit. Mischa und ich fragten sie, ob wir uns dazusetzen dürften. Sie lächelte uns mit ihren veilchenblauen Augen an. Schon nach einer Stunde hatte ich das Gefühl, Silva von früher zu kennen. Sie wollte einen Monat bleiben. Ich zeigte ihr alle Cafés rund um die Bastille, die ich selbst schon kannte. Kurz bevor sie nach Saint Louis flog, erzählte sie mir von ihrer Flucht, von der Donau, den Auen. Sie sagte, sie erinnere sich an alles, es klang wie eine Warnung, keine weiteren Fragen zu stellen. Das tat ich auch nicht, ich hörte ihr nur zu, ohne die Lücken, die es in ihrer Geschichte gab, zum Thema zu machen. Heute bin ich mir sicher, dass sie mir tatsächlich alles erzählt hat, jedenfalls alles, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie nach Amerika flog, wieder zu anderen Verwandten. Sie lebten dort seit dem Kriegsausbruch. Im Zentrum von Saint Louis hatten sie eine kleine Bäckerei aufgemacht, die sich nach kürzester Zeit etablierte. Ein amerikanischer Nachbar verdächtigte allerdings ihren Lieblingscousin, in der Garage selbstgemachte Wurst zu räuchern. Der gesetzeskundige Nachbar hatte sich bereits bei der Stadtverwaltung über den Geruch aus der bosnischen Garage beschwert, klingelte immer wieder an der Tür von Silvas Cousin und brachte

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