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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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lautstark seinen Unmut zum Ausdruck. Alle hatten Angst und waren besonders nett zu ihm, denn er trug eine Waffe, aber sie sahen zum Glück von ihrer üblichen Strategie ab und machten nicht den Versuch, ihn mit der Wurst aus der Garage zu bestechen. Der gleiche Mann brachte dann in der Jagdsaison Hirsche und Rehe in seinem großen Auto nach Hause. Das wiederum versetzte Silvas Verwandtschaft in Aufruhr. Wir kaufen unser Fleisch wenigstens im Supermarkt, sagten sie, und Silvas Tante weinte, so liebe Tiere könne sie niemals essen. Das war die Welt, die Silva nach ihrem Monat in Paris erwartete. In Amerika gab es ein neues Flüchtlingsgesetz, und sie schätzte sich glücklich, dass sie zu den ersten zählte, die davon profitierten. Mit einer Garantie ihrer Verwandten, im Notfall für sie aufzukommen, durfte sie einreisen, dann einen Antrag auf die Greencard stellen. Ihr Englisch sei ganz gut, sagte sie, schließlich könne sie jedes Lied von David Bowie auswendig. Wir lachten, Lieder und Bücher, das wussten wir von früher, waren für Südeuropäer mehr als nur einmal Nahrung und Brücken für ein neues Leben gewesen. Einmal war in Istrien eine beliebte Sängerin gestorben, die aus dem Nachbarort meiner Großmutter stammte. Als sich die Nachricht von ihrem Tod verbreitete, gingen Hunderte von Menschen aus den umliegenden Städten, Weilern und Dörfern zu ihrem Haus und sangen dort die ganze Nacht ihre Lieder. So nahmen sie Abschied von ihr. Es waren Lieder, mit denen sie selbst groß geworden waren.
    Sophie hatte ihre ganze Kundschaft im Blick und wusste immer, wer gut zu wem passte. Deshalb freute sie sich, als sie Silva, Mischa und mich ins Gespräch vertieft sah. Aber einmal verschätzte sie sich und setzte eine Frau an unseren Tisch, die wir Parfümella nannten. Die Dame roch immer nach dem schweren Opium von Yves Saint Laurent, sie legte allem Anschein nach jeden Morgen eine halbe Flasche auf. Wir bekamen kaum Luft, wenn sie in unserer Nähe Platz nahm, uns grüßte und anfing, ihren Tempura-Fisch zu essen. Sie aß hastig, aber konzentriert, nahm sich ihren Teller wie ein militärisches Terrain vor, arbeitete strategisch Stück für Stück ab, stand dann entschlossen auf, zog ihren Rock zurecht und erlöste uns von ihrer Aura, die sich wuchtig bis zu unseren Nasen und Mündern ausgebreitet hatte. Mischa und ich lächelten uns erleichtert an, Silva winkte ab, als wolle sie sagen, es gebe Schlimmeres. Wenn Parfümella einmal nicht auftauchte, redeten wir darüber, wie wohltuend für uns ihr Ausbleiben war.
    Ich schaue mir das Foto an, das ich damals von dem schönen Baum, von Silva kurz vor ihrer Abreise und von Mischa Weisband gemacht habe. Es war ein Blauglockenbaum, der sich hinter Sophies Restaurant befand. Wenn ich in Paris bin, besuche ich nicht nur meine Verwandten dort, ich gehe auch immer zu Mischa und seinem Baum. Dann esse ich wie immer bei Sophie zu Mittag, die mich noch erkennt und bei der ich wie ein Stammgast anschreiben darf, wenn ich gerade kein Geld dabei habe. Dabei weiß sie, dass ein ganzes Jahr vergehen kann, bis ich wieder auftauche. Mir sind weitere Fotos in die Hände gefallen, als ich die Kisten aufheben und auf dem Kirschholztisch abstellen wollte. Alle Zeiten haben sich in mir vermischt, alle Städte, alle Sprachen. So vieles davon wollte ich sortieren. Vorzeigbares, eine glaubwürdige Chronologie, habe ich noch nicht zusammengestellt. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger überzeugt mich genau das, ich misstraue der geordneten Abfolge meiner Erlebnisse. Die Zeit ist eine einzige große Lüge, sie stellt mich innerlich auf den Prüfstand und lässt mich fragen, wer ich denn ohne sie bin – ohne die beweisbaren Jahre und Etappen und Kreise meines Lebens. Was von der Zeit ist wesenhaft, was bleibt? Meine neue Wohnung ist noch beinahe leer. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass mir diese Leere entspricht, dass zu viele Möbel, zu viele Dinge, zu viele Farben mich stören und dass ich hier endlich begreifen werde, was seit meiner Kindheit so beharrlich in meiner Stirn klopft. Ist es die Zeit? Jene Räume, die mich zwischen den Uhrzeigern filtern und spiegeln, ohne mir einen Namen für alles zu nennen? Süße Torheit Außenwelt. Wirklichkeitssplitter. Scherben. Das vollständige Bild entzieht sich fast immer. Ich bin. Im Schlaf. Findet mich der Zusammenhang. Dort finde ich statt. Dort ist der Transitbereich zwischen zwei Scherben. Zum Hier. Bin ich einmal ganz. Der leuchtende

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