Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Faden, der alles verbindet, ist über meinem Kopf. Ich muss ihn nur finden. Ich gehe von Land zu Land, von Sprache zu Sprache, von Stadt zu Stadt. Aber wie bleibt der Faden ganz, wie bleibt er in Bewegung schön und leuchtend und mein Faden? Der Ganzheit vertrauen. Ihr. Entkommen. Splitter. Meine Zusammensetzung. Auf einen Ozean, ein Meer sehen. In die Weite. Nicht so wie Silva auf die Donau-Auen sah. Aber. Wie. Leben. Wir. Wenn. Wir. Nicht. Nur. Etwas. Oder. Jemand. Überleben. Hier ist eine neue Welt. Mein Faden hat mich mit ihr vernäht. Ich bin ein Teil der Leuchtspur. Verfugt in Abläufe, eingesetzt in die Schichten der Vergangenheit. Abläufe von eins bis zwei bis drei bis vier und wieder zurück von vorne, Abläufe, Zahlen, Statistiken, Ansagen, auf die sich alle geeinigt haben, die einen leiten in ein wie man leben soll . Der Sinn der Linearität, unerfragt, ist unter dem Asphalt begraben worden. An der Biegung der Seine, eine Bettlerin, ich denke an sie, eine alte Frau, die mich fast erschlägt, mit ihrem Stock, weil ich ihr zehn Francs zuschieben will – während sie schläft. Sie denkt, dass ich ihr etwas wegnehmen will. Ich lasse vor Schreck den Schein fallen. Und renne weg. Plötzlich ist das naheliegende Menschliche etwas, das vollkommen unmöglich ist. Ich rette mich in ein Café an der Ecke. Wenigstens mache ich mich hier nicht verdächtig, weil ich in den Augen der anderen grundlos lächle.
Neuerdings ist Grün mir eine Trost spendende Farbe. Die Räume in meinem Kopf sind langgestreckt. Flure dazwischen. Flüsse und Gräben. Brücken. Venezianisches Glas. Weißer Stein, leuchtend in der Sonne. Altgriechische Mythen. So viel Platz in meiner weitflächigen Erinnerung. Erlöschende Landschaften zum einen. Herausragende Täler und abgetragene Meere zum anderen. Ich denke an die Pannonische Tiefebene, Silvas Heimatgegend, aus der sie geflüchtet ist. Sie hat es geschafft. Sie ist ihrem Mörder entkommen. Dabei hatte das Schicksal sie schon an seine gierigen Augen verkauft. Ich erinnere mich an diese Tiefebene, auch an die Augen von Bomba erinnere ich mich. In der Zeitung haben sie oft genug ein Bild von ihm abgedruckt.
Als Kind war ich mehrmals in der Donaustadt. Wir haben das Lebensmittelkombinat besucht, ein Verwandter arbeitete dort. Meine Erinnerung ist ein großes Haus. Zimmer an Zimmer weitet sich in meinem Kopf. Sie sagen mir hier, das liege an meiner Herkunft, die mich verfolgt. Aber ich weiß, dass mein leuchtender Faden überhaupt keinen Pass hat. Ich lächle nur. Seit langem korrigiere ich niemanden mehr. Hinterland. Karst. Berge. Das Meer. Immer wieder das Salz jener uralten, flimmernden Sommerluft. Dort komme ich her. Aus dieser Luft. Mein Kopf ist autonom, er weiß, dass nun alle Pässe überall schon gestempelt sind. Aber in den Zimmern, in der Nacht, fliegen andere Vögel. Zeitüberdauernde alte Vögel. Und am Ende der Tage, aller Tage, muss ich mich vor meinem leuchtenden Faden beweisen. Gut, ein Pass hat Vorteile. Wir sind uns einig, auch eine schlichte Auskunft zum eigenen Namen, der Adresse, der Telefonnummer kann im Alltag weiterhelfen. Wo alle Namen einfach auszusprechen sind, ist keiner mehr der Unbekannte. Vielleicht ist das ein Problem und ein Glück in einem. Die Naht dazwischen könnte Trost spenden. Ich habe meine Augen geschlossen. Auf einem Felsen stehend, sehe ich das Meer. Die Bilder der Nacht schlafen, ruhen sich aus. Ich mache die Augen auf und die Lücken haben mich verbunden. Sie sind noch jenseits der Sprache. Wieder wirft mich der Tag auf meinen Personalausweis zurück. So schnell fällt es sich nicht aus dem Alphabet heraus.
Ich beschließe, meinen Traum von einem Vögelchenzimmer wahrzumachen und den kleinsten Raum in meiner neuen Wohnung leer zu lassen. Davon erhoffe ich mir Ruhe. Einen Transitbereich zwischen Nacht und Tag. Der Faden kennt den Weg ins Innere. Das Vögelchenzimmer soll so bleiben, einfach nur ein Raum sein, kein Gegenstand, kein Gedanke soll ihn verstellen. Ezras Wort soll auch bleiben. Ich gehe hinunter auf die große Straße, am türkischen Kiosk vorbei und kaufe in einem vietnamesischen Blumengeschäft gelbe und weiße Rosen. Ich stelle sie in das kleine Zimmer. Ich will in diesem Zimmer nur atmen und in den anderen Räumen arbeiten und leben. Tag und Nacht reichen sich im leeren Zimmer die Hand. Was ich auf gar keinen Fall will, ist in diesem Dazwischen an Arik zu denken, und doch geht er mir gerade hier überhaupt nicht aus dem Kopf. Zwei
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