Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
die ruhige Beständigkeit der Sommer, und das war und blieb ein in uns für immer eingeschriebenes Glück. Selten sah jemand auf die Uhr. Wir aßen, wenn wir Hunger hatten, und gingen schwimmen, wenn wir uns nach kühlendem Wasser sehnten. Auch Silva kannte dieses Zeitmaß, wer im Süden groß geworden ist, kennt die Langsamkeit, mit der sich unsere Körper in den Sommern bewegten, ganz besonders an den unter der prallen Sonne flimmernden Hundstagen, an denen, so sagten es die alten Frauen im Dorf meiner istrischen Großmutter, nur Kinder zur Welt kommen, denen später alles geschenkt wird, weil sie den Mut haben, in der größten Hitze des Jahres ihre Seele auf die irdische Reise zu schicken.
Ich kannte Silvas Donaustadt vor der Zerstörung. Mitte der Achtzigerjahre fuhren wir öfter nach Slawonien. Das dortige Lebensmittelkombinat war bekannt im ganzen Land. Anfangs, als Silva sich im Gebüsch versteckte, sah sie einige Vögel und Störche in den Donau-Auen, sie stellte sich vor, dass sie mit ihr redeten, ihr etwas mitteilen wollten. Die Vögel flogen aber fast alle davon. Es war ein kalter Tag. Sie hatte einen Schuh verloren, aber sie suchte nicht nach ihm, weil sie Angst hatte, dass man sie bemerken würde. Von der Donau wehte ein eisiger Wind herauf. Der Himmel war stahlblau. Alle Schatten standen wie Gegenstände vor ihr. Messerscharf. Die Konturen, so greifbar, so nah, dass es aussah, als könnte man sich einfach an die Schatten lehnen. Die dagebliebenen Vögel, ein kleiner Rest nur, der ihr aber Hoffnung schenkte, tat das auch. Die Vögel lehnten sich mit ihren Schnäbeln an die Schatten. Die Donau glitzerte, am Morgen war sie noch ein stolzer alter Fluss gewesen. Jetzt war sie alt und schwanger. Silva wagte nicht zu atmen. Der Fluss war voller Leichen. Ein Grenzfluss, an dem sich die Vorkommnisse von früher wiederholten. Aus dem Nichts tauchten Bagger auf. Die Leichen wurden ins Wasser gehoben, sie versuchte wegzusehen, aber sie konnte nur gelähmt auf die Donau starren und denken, dass die einzelnen Gliedmaßen doch bestimmt schon in Novi Sad waren, dort einen Angler erschrecken und dann im Unterlauf, am Eisernen Tor, im Banater Gebirge einen Menschen entsetzen könnten, der vielleicht, hatte sie gedacht, gerade erst der rumänischen Gedankenpolizei entkommen war, die ihn über Jahrzehnte ausspioniert, die seine Frau vom Fahrrad gestoßen hatte und die ihn am Ende irgendein Papier unterschreiben ließ, auf dem stand, dass Kichererbsen Fleisch sind. Silva dachte an den Verlauf der Donau, an ihre wilde Beharrlichkeit, mit der sie die Grenzen, Sprachen und Länder ignorierte, die immer weiter floss, wie sie es seit Urzeiten getan hatte. Silva lag im Gebüsch und hörte die Wucht der Donau, sie trug ihre Last weiter, kümmerte sich nicht um sie und dieses Gebüsch, nicht um ihre Erinnerungen, nicht um ihre Angst, nicht um ihr lächerlich laut klopfendes Menschenherz, Temperaturen, Gedanken und Krankheiten waren dem Fluss egal. Die Donau floss ihrem Ziel entgegen, wuchtete ihre Eingeweide nach vorne, war eine unermüdliche Arbeiterin, die sich auf ihrem Weg zum Schwarzen Meer von nichts und niemandem aufhalten ließ.
Als Silva mir von den kalten Dezembertagen erzählte, wurde mir schlagartig klar, dass die Donau schon immer ein Grenzfluss gewesen war, ein Fluss, an dem es ganz leicht passieren konnte, dass ein Mensch innerhalb eines einzigen Lebens zu einem anderen Land, einer anderen Nation, einem anderen Pass gezählt wurde. Bomba kämpfte dafür, dass seine Leute einen neuen Pass bekamen. Seine Stimme überschlug sich, der Wind schluckte sein Gebrüll. Im Gebüsch knackte es. Silvas Bein war eingeschlafen. Sie musste sich kurz bewegen und fiel dabei um wie ein Holzklotz. Sie hatte gehen wollen. Nur ein paar Schritte. Es war ein Gehen wie in Watte. Bomba hörte es. Die Watte war zu weich. Er stand vor ihr. Sie sah seine weißen Zähne. Und riesige Augen, die sie inspizierten. Er lächelte sie an. Bomba forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Sie folgte ihm so, wie die Männer ihm gerade noch gehorcht hatten. Hast du dich verlaufen, Kleine, fragte er sie. Sie nickte, obwohl das nicht stimmte und sie hier keineswegs zufällig war. Als sie nach links sah, erblickte sie einen Leichenhaufen. Alles Männer. Nackt. Keine Frauen. Keine Kinder. Die gelben Bagger schafften sie ins Lebensmittelkombinat. Sie bemerkte den Firmennamen auf dem Bagger. Ein deutsches Unternehmen. Ihr war schwindelig. Was dann passierte, erfuhr
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