Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
ich nicht mehr. Mitten im Satz brach ihre Erzählung ab. Die Erinnerung an die Bagger schien Silva vollständig aus der Bahn geworfen zu haben. Planmäßig verließ sie Paris.
In Saint Louis hat sie gleich neben der Bäckerei ihrer Verwandten ein Restaurant eröffnet. Wir schreiben uns oft, sie erzählt mir, was auf ihrer Speisekarte steht, was sie wieder streicht und was sie neu ausprobiert. Sie sagt, dass sie nur noch in englischer Sprache träumt, dass sie sehr gut ihre neue Sprache spricht, dass sie keine Toten in der neuen Sprache hat. An jenem Tag in Sophies Restaurant hat sie mir nicht erzählt, warum Bomba sie laufen ließ. Diese Lücke wird für immer eine Lücke bleiben. Aber sie sah, was mit jenen Leichen geschah, die nicht in der Donau landeten. Bomba, den seine Untergebenen Meister nannten, verfütterte sie an hungrige Schweine im Lebensmittelkombinat. Das habe ich erst viele Jahre später erfahren. Es stand in der Zeitung, als Bomba lange nach dem Krieg in einem Belgrader Hotel erschossen wurde und seine Leute eine Ikone von ihm und seiner Ehefrau, einer Sängerin, die in den Neunzigerjahren Millionärin geworden war, anfertigen ließen.
Ich setze mich in das leere Zimmer. Heute sieht es viel größer aus als an den Tagen zuvor. Es scheint sich auszudehnen. Vielleicht ist es aber auch der Himmel. Das Blau, das mich von draußen anschaut. Die Sonnenstrahlen, die es erhellen. Der schöne alte Dielenboden leuchtet. Ich denke an den Honig, den Nadeshda mir mitgebracht hat, von ihren Verwandten aus den bosnischen Bergen. Magli ć . Und Bjelašnica. So heißen die Berge. Die Leute ziehen in den Sommern hinauf und kümmern sich um die Bienen. Niemand muss die Bienen hier retten. Der Krieg hat den Bienen nichts getan. Sie brauchen Hiromis Petitionen nicht. Es scheinen gesunde, fleißige, unermüdliche Bienen zu sein. Die Farbe des Honigs wirkt jedes Mal frischer, wenn ich das Glas hervorhole und mir wie früher als Kind ein, zwei Teelöffel auf eine Weise gönne, als würde ich den Honig heimlich essen.
Statt in dem kleinen Zimmer an nichts zu denken, wie ich es mir vorgenommen habe, denke ich hier an alle und alles, denke an die Donau, an jenen Dezember, in dem sie im Übermaß Sauerstoff produzierte und eine Müllhalde wurde, in deren Gedärmen es rumorte. Andere Schichten kamen jetzt im Fluss zum Tragen. Der Sand der Pannonischen Ebene. Die Sanduhr, die für alle dort etwas abzählte, auch für mich, auch jetzt, da ich davon weiß, zählt diese alte Uhr etwas ab, das, so hoffte ich, als Silva mir damals davon erzählte, nie wieder passieren und für immer aus der Zeit fallen würde. Der Sand rieselte für die Toten weg. Aber auch für die Lebenden. Und auf allen Uhren bewegten sich die Zeiger zeitgleich. Tick. Tack. Tack. Tick. Im folgenden Frühjahr, als das Eis aufbrach, presste die Donau ihre Eingeweide aus dem Becken heraus. Der Fluss trat über die Ufer und die Toten wurden eins mit dem Land der Vorfahren. Ich frage mich, was Silva damals genau geschehen ist, was sie in der von ihrer Erinnerung ausgelassenen Lücke sah, bevor Bomba sie laufen ließ. Ich stelle mir vor, dass anderntags die Frösche wieder in den Auen quakten und die Weckrufe der Hähne wie immer zu hören waren. Nichts hielt sie davon ab. Nur dass niemand mehr da war, der sie hätte hören können. Vielleicht stand ein Esel am Rand der Wiese, allein, herrenlos, bis zu den Knien im Sumpf. Er wusste nicht, wohin, wusste nicht weiter. Seine Augen waren mit Schlafsand verklebt. Matzel, Matzel, alles war vereitert. Da stand er, der Esel, rührte sich nicht von der Stelle, er hatte niemanden mehr, dem er hätte treu sein können. Katzen. Gänse. Kühe. Klappernde Störche. Hungrig knurrende Hunde. Das Leben an der Donau ging weiter. Wasser fragt dich nichts, hatte Silva mir gesagt, als wir uns zum Abschied in Sophies Restaurant noch einmal gegenübersaßen. Wasser fließt nur, sagte sie, es fließt einfach immer nur weiter, und trägt alles fort. Sie hatte an diesem Tag ein langes blaues Kleid angezogen, ihre blonden Haare fielen ihr tief in den Rücken und sie lächelte. Sie ist so schön, dachte ich, mein Gott, in Amerika wird sie jedem, der ihr in die Augen sieht, auf der Stelle und für alle Zeiten das Herz brechen. Vielleicht sogar das Leben retten.
Ich wusste, dass ich Silva nie wiedersehen würde. An diesen schmerzlichen Zustand des fortwährenden Abschieds hatte ich mich in Paris längst gewöhnt. Kaum war ich neuen Menschen
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