Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
Vom Netzwerk:
Schwalben fliegen vorbei. Die sechzehnte, die siebzehnte an diesem Tag. Bevor ich schlafen gehe, schreibe ich Hiromi eine Postkarte: »Ich habe heute siebzehn Schwalben gesehen und jede einzeln nach Tokio geleitet. Schau mal aus deinem 35. Stockwerk raus. Es sind schnelle Vögel.« Morgen will ich die Postkarte einwerfen. Ich stelle mir Hiromi vor, ihr Lächeln, ihre schönen Augen. Maronibraunes Leuchten. Außen ruhig. Alles unter Kontrolle im 35. Stockwerk, wo sich ihr Atelier befindet. Wie immer hat sie alles perfekt organisiert, sie hat mir ein kleines Video geschickt – ihren Tagesablauf, aufgenommen mit dem Handy: Aufstehen – fünf Uhr, zu Bett gehen elf Uhr. Der Tag, durchdacht. Ein Ablauf, an dem nichts verändert werden darf. Alles läuft immer nach Plan.
    Und im Innern, das Gegenfeuer. Hiromis Feuer. Sie wieder, verstrickt in tausend komplizierte Liebesdinge. Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Satz, den sie immer sagte, wenn ich Genaueres über das wissen wollte, was sie gerade in ihren Beziehungen erlebte. Was ich heute vor mir sehe, ist vielleicht mein Gesicht von morgen. Das ist mein Lieblingssatz von Hiromi. Sie hat ihn in Paris mehrmals gesagt, stets mit einem schelmischen Lächeln.

dritter tag
    Weltvermehrung. Und ihre Verschiebung ins Einzelne. Durch Wörter. Durch Sprachen. Durch das beruhigende Zählen der Berliner Schwalben. (Heute sind es vierzig an der Zahl, ein paar Rauchschwalben, leuchtend blau, sind auch dabei und im nächsten Sommer leben sie vielleicht in München, Paris, Moskau oder Tokio.) Durch meine Erinnerung. Durch meine alten Notizhefte und die in ihnen versteckten und schon mit der Niederschrift meiner Gedanken alt gewordenen Wahrheiten. Durch Fragen. Das Dazwischen bleibt, sagt Nadeshda, weil es sich verwandelt. Sie hat mir erzählt, dass sie das von ihren nach Amerika ausgewanderten Großeltern gelernt hat. Dabei ist Nadeshda ihnen nie begegnet. Bei der Einreise auf Ellis Island haben die beiden alten Menschen Abschied von ihren dalmatinischen Namen genommen. Ivan und Milena hießen sie noch auf dem Schiff, jetzt waren sie John und Marilya. Sie störten sich nicht daran. Ihre neuen Namen gingen ihnen in allem voraus.
    Über die Verwandlung hat auch Silva mit mir gesprochen, als ich mich in Sophies Restaurant an der Bastille zu ihr setzte. Aber dieses Wort von Nadeshda, die ihre Gefühle immer gleich in Gedanken umformulierte, hat sie nie benutzt. Alles, was Silva mir über sich erzählte, handelte davon, wie sie zu ihrem neuen Leben nach dem Fall ihrer Stadt kam. Erst hatte sie geglaubt, dass sie die letzten Jahre einfach vergessen könnte, dass sie die Lücken in ihrer Erinnerung nutzen würde, bis sich mit der Zeit an ihre Stelle etwas anderes setzen würde. Aber die Bilder von der Donaustadt sind immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Zuerst das Schimmern des Wassers. Dann der vereiste Fluss in jenem eisigen Dezember. Die unheimliche Stille danach, eine Stille, aus der heraus sie wie in Zeitlupe die Beine eines Uniformierten vor sich sah. Sie kauerte im Gebüsch, dem lauten Pochen ihres verräterischen Herzens ausgeliefert. Die anderen Männer, die sie jetzt alle am Flussweg entdeckte und die sich gegenseitig mit dem Wort Tiger riefen, nannten ihn Bomba. Er brüllte die Befehle. Jetzt stand sie vor ihm. Sie wusste, dass sie in seinen Augen eine Zeugin war. Aber Bomba tat ihr nichts, Bomba, den später alle auf der anderen Seite der Donau einen Helden nannten, ließ Silva laufen.
    Sie erzählte mir nicht, warum, sagte nicht, warum sie am Leben geblieben war und alle anderen getötet wurden. Aber Bomba tat ihr nichts. Anfangs hat Silva in Sophies Restaurant nur über ihre Kindheit gesprochen, über die Pannonische Ebene, die Schmetterlinge, die Libellen, über das Flirren und Surren in den Donau-Auen und über das Baden in den langen Sommern am Fluss. Das erinnerte mich an Istrien, an jene hellen Tage im Licht, die uns alle im Glück wie in einem alten festen Sattel hielten. Damals schien uns allen die Gemächlichkeit der Nachmittage unter den Feigenbäumen unendlich sicher, weil alles an ihnen zeitlos war und die Vergänglichkeit uns über Jahre hinweg mit ihren Verlusten schonte. Wir wussten nicht, dass genau das, was vorbeigeht, zum Kostbarsten im Leben zählt, und wir hatten keine Ahnung, dass die Vergänglichkeit nur dann wehtut, wenn man nicht um sie weiß oder gegen sie ankämpft. Zugleich hatten wir etwas erfahren, das über den Schmerz hinausging, wir kannten

Weitere Kostenlose Bücher