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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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begegnet, brachen sie wieder auf und flogen fort, nach Amerika, Australien, Kanada, um etwas Neues zu beginnen. Anfangs schrieben wir uns alle, aber dann hörte es auf und alle Briefe blieben fast zeitgleich aus. Ich wunderte mich darüber und deutete es solange als Treulosigkeit, bis ich verstand, dass die Anderen jetzt, da sie nicht mehr schrieben, in ihrem neuen Leben angekommen sein mussten. Glück erfüllte mich, und ich war dankbar, dass sie ihr Unterwegssein mit mir geteilt, mich in jenem Moment in ihre Augen blicken hatten lassen, in dem sie nur sie selbst waren: einzelne Menschen, auf dem Weg in ihre Zukunft – ohne die Sicherheit einer festen Adresse, ohne Beruf, ohne schöne Kleidung, nur sie in ihrem Wesen sah ich, nur ihre Münder, ihre Wangen, nur die Farbe ihrer Augen.
    Nicht alle in Paris Gestrandeten waren wie Silva auf dem Weg ins Neue. Einige waren aus einem anderen Grund nach Frankreich gekommen und wollten das Alte behalten. Nadeshda und ich suchten immer nach Cafés, weil wir etwas Neues entdecken wollten und wir auf diese Weise auch noch die Stadt erkundeten. Auf einem unserer Spaziergänge machten wir eine merkwürdige Entdeckung. In der Nähe der Bastille stießen wir in einem Bistro auf eine Gruppe von Leuten, die sich Club der Visionäre nannten. Ich kannte diesen Namen, Arik hatte Fotos von den Männern gemacht und sie in einer großen Tageszeitung veröffentlicht. In mediterraner Lautstärke proklamierte die Gruppe ihre sogenannten Visionen. Hier simulierten sie kollektive Anfälle von Nostalgie. Offenbar war keiner von ihnen in den letzten Jahren selbst im Land gewesen, sie hatten den Krieg nicht miterlebt. Der Sprecher des Clubs gab sich weltmännisch und erzählte den anderen, dass er in Sonoma County und in Saint Louis gelebt hätte. Nadeshda und ich sahen uns an und bestellten uns einen Kaffee. Wir wollten beide hören, was der Mann noch über sich berichten würde. Jedes Clubmitglied musste sich vorstellen. Der Sprecher, Zoki Zaritsch, hatte sich Ende der Siebzigerjahre, als man schon längst ins Ausland reisen konnte, aus reiner Langweile zu einem Großonkel nach Kalifornien aufgemacht und blieb erst einmal dort. Doch der alleinstehende Onkel erwies sich als tyrannisch und Zoki nahm Reißaus, landete in Saint Louis als Fensterputzer. Als er von den Unruhen in seiner Heimat hörte, war er gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Mit seinen letzten Ersparnissen flog er zurück nach Europa, um zu kämpfen. Aber man ließ ihn nicht einmal ins Land. Alle Männer waren an den Fronten, niemand brauchte mehr Freiwillige. Die belagerte Stadt war unerreichbar. Ein anderer Onkel half Zoki, nach Frankreich zu emigrieren. Er nutzte sein Talent für das Spiel, so seine Worte, besann sich auf seine Fingerfertigkeit und wurde Hütchenspieler. Auf diese Weise kam er an etwas Geld. Immer wieder sprach Zoki in seiner Rede von einem Filmregisseur, den er sehr bewunderte. Er nannte ihn den Großen Meister. Wir wussten, wen er meinte, aber bevor er seinen Namen nannte, fingen alle an, sich mit Sljivovitz zu betrinken. Von Visionen und Sprachen früherer Zeiten war nicht mehr die Rede.
    Nadeshda und ich verließen das Bistro, ohne viel darüber zu sprechen. Ich glaube, wir haben damals beide verstanden, dass nur noch Scherben von unserer Vergangenheit übrig geblieben waren. Niemand konnte sie mehr aufheben und zu einem Mosaik zusammenfügen. Die Scherben würden sich immer weigern, im alten Bild eingeschlossen zu sein. Wir sprachen über die Fotos, die Arik von Zoki Zaritsch und seinem Club gemacht hatte. Ich verstand nicht, woher Nadeshda die Bilder kannte, ich fragte auch nicht nach. Vielleicht hatte sie sie in der Zeitung gesehen. Nadeshda hat mir in Paris nicht alles über Arik und sich erzählt. Erst als sie nach Berlin fuhr, gab sie mir in einer merkwürdigen Andeutung zu verstehen, dass sie ihm noch vor der Sitzung mit den blauen Blusen begegnet war.
    In Berlin wurde Ezra mein kleiner Freund. Ich nahm ihn auf Spaziergänge mit und er nannte mich immer Ara. Du bist meine Ara, sagte er, Ara, du bist meine große Freundin. Es beruhigte mich, dass er da war, dass es ihn gab, und wenn er angstlos auf große Hunde zuging, machte es mich glücklich, ihn so zu sehen und zu wissen, dass seine Neugier stärker war als die Furcht vor dem unbekannten Tier. Ich dachte an den Tag in Bièvres, daran, dass ich mein Kind nicht wie Nadeshda ihres behalten hatte. Sie hatte an Abtreibung und Adoption gedacht, sich aber

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