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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Leben. In jenem Augenblick beim Teetrinken wäre, soweit bin ich mir heute sicher, auch ich selbst ein anderer Mensch gewesen, wenn ich mich für Cléments Geschichte interessiert hätte.
    Ein paar Wochen nach diesem Besuch, als ich einmal unangekündigt Ariks Pariser Wohnung betrat, war zu meiner Überraschung Signora Souza da. Sie lächelte, sah mich lange durchdringend an. Meine Schöne, du siehst müde aus. Ich sagte, ja, das stimmt, ich bin müde. Geh hier weg, sagte sie plötzlich, du kannst dein Kind auch anderswo zur Welt bringen – du bist nicht sein einziges Glück. Er hat immer anderen Damenbesuch, das ist kein Mann für eine junge und gesunde Frau wie dich. Geh nach Hause. Sie war beharrlich. Ich zeigte auf meinen Bauch und sagte, nach Hause? Ich habe kein Zuhause mehr, mein Leben ist hier, in Frankreich. Der Krieg war vorbei, schon lange, aber ich wollte nicht in ein zerstörtes Land zurückkehren. Es gab meinen alten Platz nicht mehr in seinem neuen Gefüge. Signora Souza sagte, auch für dein Kind ist er kein richtiger Vater. Er hat eine Frau in Montréal und mit ihr hat er einen Jungen, der jetzt zwölf Jahre alt sein müsste. Aber Signora, sagte ich, das weiß ich doch längst, das ist schon länger her, dass er diese Frau hatte. Ich weiß, sagte sie, die Dame hat lange draußen bei Clément gelebt. Ich war verwirrt, mein Herz fing an zu rasen. Es fiel mir schwer, ihre Worte in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Ich wollte Ariks Wohnung so schnell wie möglich verlassen, aber Signora Souza redete weiter auf mich ein, sie erzählte von der Kanadierin, die draußen bei Clément gelebt hatte, und von ihrer eigenen unglücklichen Tochter, die mit einem Franzosen verheiratet war, einem brutalen Trinker, der sie in aller Regelmäßigkeit schlug. Ich hörte ihr zu und wusste nicht, was ich zu alledem sagen sollte. Dann umarmte ich sie kurz und verließ überstürzt die Wohnung. Als ich in Richtung der Seine ging und die Pont Neuf überquerte, wurde mir schwindelig. Das Klopfen in meiner Stirn war laut und beharrlich. Eine Weile lief ich nur so umher. Ohne Ziel. Ohne Zeitgefühl. Signora Souza wusste mehr über Arik als ich verkraften konnte. Ich traute mich nicht, ihr weitere Fragen zu stellen, denn ich hatte Angst vor ihren Antworten. Trotzdem kehrte ich um, ging noch einmal in die Wohnung. Sie war fort. Das Klopfen in meinem Kopf war leiser geworden. Ich hatte keinen Aussetzer erlitten, sondern alles langsam in mir sortiert, was Signora Souza mir erzählt hatte. Die Wohnung war sauber, sogar Blumen vom Land hatte sie mitgebracht, sie leuchteten mir auf Ariks langem Holztisch entgegen.
    Auf dem Foto, das ich in meinem alten Adressbuch gefunden habe, trug ich an jenem Tag, als wir zu Clément fuhren, jene schwarzen Schuhe mit Absatz und Riemchen, die mir Tante Mila gleich nach meiner Ankunft in Paris geschenkt hatte. Ich wollte unbedingt, dass sie mir passen. Aber sie waren und blieben eine Nummer zu groß für mich. Sie sahen aus wie altmodische Flamenco-Tanzschuhe. Von heute aus betrachtet kommt es mir rätselhaft vor, dass ich auf die Idee kam, sie tatsächlich zu tragen. Aber als ich schwanger war, sah ich das gar nicht, ich liebte diese Schuhe sogar mehr als alle anderen, die mir passten. Ich trug sie in der Schwangerschaft beinahe jeden Tag. Als meine Füße dicker wurden, Monat für Monat immer mehr anschwollen, passten die Flamenco-Schuhe mir perfekt. Und erst kurz vor der Niederkunft hörte ich auf, sie zu tragen.
    Die Nahrungsaufnahme begann nach zwei Wochen zu glücken. Ich durfte mit dem Kind nach Hause. Das war der Augenblick, in dem die Schwestern mir zum ersten Mal Wochen nach der Geburt das Bündel in die Arme legten. Alles fühlte sich wie in einem fremden Traum und nicht wie in meinem Leben an. Ich fiel in eine Art empfindungsleeren Zustand, schwieg, starrte reglos vor mich hin. Dennoch wollte ich versuchen, ihm eine gute Mutter zu sein. Hiromi half mir und nähte lustige Hosen und Deckchen für den Jungen. Aber das Bündel kam mir so schwer und so fremd vor. Ich war müde und schlief stundenlang. Mischa und Hiromi kümmerten sich um das Kind. Von Arik hörte ich nichts. Er schien dieses Mal für immer verschwunden zu sein. Je länger sein Verschwinden andauerte, desto mehr kam er mir wie eine Erfindung vor, wie jemand, den ich mir über Jahre hinweg aus- und zugedacht hatte. Und da er wegblieb, fing die alte Leere an, in mir zu arbeiten. Nadeshda war längst in Berlin, und ich war

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