Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
kannte er nur flüchtig. Er hatte die Familie sehr früh für eine jüngere Frau verlassen, die nur ein paar Straßen weiter weg wohnte und die sie jeden Tag beim Bäcker und in anderen Läden trafen. Als er mich ansah, wusste ich, dass ich das Kind weggeben würde, dass ich nicht mehr auf ihn warten konnte, dass es vorbei mit uns war.
Er strich mir wie früher über das Haar, küsste meine Wangen. Aber es fühlte sich anders als damals im Alter von zwanzig Jahren an. Wir spürten beide, dass nur noch der Abschied uns verband, weil ich bereit war, fortzugehen, nichts mehr zu wünschen, was er nicht in der Lage war zu geben. Als ich Signora Souza meinen Schlüssel zurückgab, erzählte sie mir, dass Arik eine rätselhafte Krankheit habe. Es ist etwas mit den Nerven, sagte sie. Nach einer Reise war er wegen einer Gehirnentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er wurde von unkontrollierbaren Schlafanfällen übermannt. Seit damals male er nicht mehr. Es sei vorbei mit dem Malen. Und also auch mit seinem Fotografieren.
Ich habe Arik danach doch noch einige Male gesehen, er sah nicht krank aus. Im Gegenteil, er machte einen sehr gesunden Eindruck auf mich und fing mich wie früher vor Hiromis Wohnung ab, redete wild und leidenschaftlich auf mich ein, das Kind erwähnte er nicht mit einem Wort. Dann wurde er müde und sagte, er müsse weg, müsse sich hinlegen, schlafen. Ich spürte, dass eine tiefe Veränderung in mir vorgegangen war und es tat mir weh, ihn so zu sehen. Seine Schwäche war es, die mir dazu verhalf, ihn sehen zu können, ganz allein ihn, Arik – ohne mich, ohne meine Wünsche und das, was er durch sein Chaos und seine Worte in mir auslöste. Wir trafen uns dann mehrmals an den Nachmittagen, tranken Kaffee zusammen, gingen an der Bastille ins Kino. Fast jedes Mal überfiel ihn die Müdigkeit, unsere Treffen wurden immer kürzer. Und irgendwann kam er einmal nur zu unserer Verabredung, um mir in jenem Café, in dem wir einander zum ersten Mal begegnet waren, fünftausend Francs in einem Umschlag zu übergeben. Für den Jungen, sagte er, sehr leise, fast so, als sei das Kind ein großes Geheimnis, von dem niemand außer uns wissen dürfe. Ich dachte an Clément, an seine Kälte und die Art, wie er mich an jenem Tag draußen in seinem Haus zu übersehen versucht hatte, und schob Arik den Umschlag wieder hin. Behalt das, sagte ich, ich brauche dieses Geld nicht. Er sah mich an wie ein Kind, das geschlagen worden war. Manche Dinge kann man nicht mit Geld bezahlen, sagte ich. Er schwieg, mehr war ihm nicht möglich. Ich sah ihn an und dachte wieder an den Marienkäfertraum zurück, den ich geträumt hatte, als ich im vierten Monat schwanger war. Arik war darin zum Mörder unzähliger Marienkäfer geworden.
Der Traum war von einer erschütternden Präzision gewesen. Ich sah den Vater meines Kindes in einer Pariser Straße, die einer Gasse aus der belagerten Stadt glich. Ratlos ging er herum, von den Bergen her drohte ihm ein Feuer. Mal ging er nach links, mal ging er nach rechts, er drehte sich um und visierte eine neue Straße an. Ich glaube, all das fand überwiegend in der rue de Seine statt. Mit einem Mal standen an der sonst bebauten Stelle lauter hochgewachsene Blauglockenbäume. Sie waren ebenso schön wie jener große Baum, den mir Mischa Weisband hinter Sophies kleinem Restaurant gezeigt hatte. Unter den Bäumen standen Sitzbänke aus hellstem Holz. Einen Lidschlag lang sah ich den Dorfplatz hinter dem Haus meiner Großmutter. Arik, noch immer ratlos, versuchte sich zu setzen. Der alte, schwere Steintisch stand da, an dem ich in der Kindheit während der istrischen Sommer so oft gesessen hatte, im Spiel, mit den anderen Kindern. Es war ein uralter Richtertisch, umringt von zwölf Steinsitzen. Früher hatte hier der Stadtrat getagt. Jetzt stand Arik dort ganz allein. Ich sah ihm zu. Die zwölf weisen Männer und ihre langen Bärte fehlten, die sie auf dem Tisch ablegten, bevor sie mit der Beratschlagung begannen. Arik wunderte sich über diese Verwandlung der Pariser Straße, verstand aber sehr wohl, dass er sich hinsetzen musste. Er versuchte, zeitgleich auf allen zwölf Sitzen Platz zu nehmen. Und dann entschied er sich schließlich nach einem endlosen inneren Kampf für einen einzigen, wie das jeder andere auch getan hätte – weil es nicht anders ging, weil er sich setzen musste. Eine Art Zwang oder Befehl im Traum. Der Steintisch leuchtete, war eine verloren gegangene Sonne. Er legte
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