Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
über Mateo erzählte, überstiegen meine Vorstellungskraft über das, was ein Mensch tun und wie er sich verändern konnte. Einmal, das habe Mateo ihr selbst in Großmutters Haus erzählt, hatte er einen Mann neben sich im Graben weinen sehen und ihn von ganzem Herzen dafür verachtet. Auch dann, als dieser ihm erzählte, dass seine Frau auf dem Weg zum Markt erschossen worden war, erschossen von Leuten, die zufällig zum ersten Mal eine Waffe benutzten, herumprobierten und aus Spaß ins Nichts zielten. Zufällig ging sie, gerade in Gedanken versunken, durch dieses Nichts in Richtung Marktplatz, um für ihre Kinder Besorgungen zu machen. Das hatte ihm seine elfjährige Tochter geschrieben. Unsere große Nation wird es dir tausendfach zurückzahlen, hat Mateo zu ihm gesagt, sie wird dich bis ans Ende deines Lebens dafür ehren, dass du für sie weiterkämpfst. Aber der Mann hörte nicht auf zu weinen und sagte, die Nation sei ihm egal, alles sei ihm egal, er wolle keine Ehrung, er wolle auswandern, nach Amerika, nach Australien, egal wohin, nur weg wolle er, aus dieser Hölle verschwinden. Mateo habe ihn dafür verabscheut. Gerade jetzt musst du durchhalten, mein Kumpel, sagte er zu ihm, halt’ durch, wir bauen unser Land neu auf, das bringt immer zuerst Verluste mit sich. Eine Stunde später wurde der Mann tödlich verwundet und starb vor seinen Augen. Was für ein Vögelchen das war, sagte Mateo, das haben wir jetzt gesehen, was der Tote für ein Mann gewesen ist, ein Nichts von einem Mann, er hat in seiner letzten Lebensstunde geheult wie ein Hühnchen. Das sei, sagte meine Mutter, bis heute seine Lieblingsgeschichte, die er jedem im Wirtshaus schon tausend Mal erzählt hat.
Meine Großmutter Inge wusste, was mit Mateo los war, früher hatte er sich ihr hin und wieder anvertraut. Aber jetzt redete er so gut wie gar nicht mehr mit ihr. Ein Mann mit Charakter, so nannte man ihn in der stolz gewordenen Gemeinde, die, genauso wie er, nichts mehr von den alten Zeiten wissen wollte. Sie hatten nur eines im Sinn: Die eigene Sprache zu erhalten, sie zu lieben und vor fremden Einflüssen zu beschützen. Das war jetzt ihre wichtigste Aufgabe. Weg mit der Literatur der Feinde! Weg mit dem anderen Alphabet. – Sie gehörten doch nicht zu Moskau und den Russen. Sie hatten alle in der Schule das bescheuerte kyrillische Alphabet lernen müssen, sagten sie sich. Wie überflüssig das war, das konnten sie sich nicht oft genug vor Augen führen – wo bitteschön konnte man denn irgendeinen kyrillischen Buchstaben sinnvoll im zivilisierten Europa einsetzen? Nirgendwo. Na bitte! Sie gründeten einen Verein, nannten ihn »Schule für unsere vaterländische Sprache« und unterrichteten die Leute auch in korrekter Geschichte. Es wunderte mich nicht, dass meine Mutter nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Stolze Dichter vom Lande und aus den Städten schrieben pfiffige Palindrome auf den ersten Mann im Staate. Der Verein konzentrierte sich auf »sprachspezielle nationale Fragen« und kurze Zeit darauf war ein vaterländisches Archiv sein ganzer Stolz. Die erste Frage, der sich der Verein widmete, war die Opferfrage. Es kam bei ihren Recherchen heraus, dass in der Vergangenheit das eigene Volk, die eigene Sprache immer irgendetwas oder irgendjemandem zum Opfer gefallen waren. Wie sehr sie die fremden Invasoren hassten! Und erst recht deren Sprache! Das würde nie wieder vorkommen dürfen! Nie wieder würden sie es erlauben, dass jemand sie derart offensichtlich in Knechtschaft hielt und mit allen Mitteln, ja sogar mit einem zusätzlichen Alphabet, vor den Augen der ganzen Weltöffentlichkeit unterdrückte! Das würde jetzt und für immer und in allen Zeiten anders werden müssen! Wir werden uns auf uns selbst besinnen, sagten sie. Auf unsere Wurzeln! Auf unsere schönen Adjektive! Auf unseren wunderbaren Vokativ und den besonders wichtigen Lokativ!
Neben der Sprache setzten sie noch zusätzlich auf die Kraft der Mythen. Sie liebten diese schönen, alten heroischen Geschichten. Was aber noch viel wichtiger war, sagte meine Mutter: sie liebten Gott. Und Gott war an ihrer Seite. Das wussten sie, ohne ihn zu fragen. Er sprach ja einfach so mit ihnen, im Kopf und später in der Schlacht. Sie einigten sich auch bald darauf, ganz auf die Tiefenkraft Gottes in ihren Seelen zu setzen. Sie waren Gläubige! Christen! Der Himmel war ihr Zeuge! Der Himmel war ihr Helfer! Da sollte ihnen nur einer wieder mit diesen fremdsprachigen Elementen kommen
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