Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
Vom Netzwerk:
meiner Oma Inge, für die er die Bäume auf den Feldern beschnitt, der er bei der Traubenernte im Herbst half und mit der er fast jeden Tag über ein Jahrzehnt hinweg zu Abend aß. Den Schlüssel zu Haus und Hof hatte sie ihm nie abgenommen. Jetzt hatte er aber immer etwas anderes zu tun, dabei, davon war meine Mutter überzeugt, hatte er eigentlich Angst vor sich selbst.
    Das ließ mich besonders aufhorchen. Mateo hatte mir manchmal unter den Bäumen vor unserem Haus von seinen Ängsten erzählt. Er hatte schon in der Grundschule Angst vor dem Meer, weil er nicht schwimmen konnte, aber er fürchtete sich nicht nur vor dem Wasser, sondern auch vor den Blicken der anderen, er hatte Angst vor dem Regen, Angst vor Insekten, ganz besonders vor Schmetterlingen, Schlangen und Vögeln, er hatte Angst vor der Kälte und vor der Sonne, er hatte Angst, dass seine Mutter sterben könnte, dass er sie aus Versehen schlagen könnte. Er hatte Angst vor einem Gespräch mit Unbekannten und schob dann später immer seine schlauen Gedanken über Philosophie wie einen Schutzschild vor sich her. Schon als Junge las er Bücher über die menschliche Existenz und alle wunderten sich, dass er immer noch Angst vor einer beiläufigen Berührung hatte – er zuckte regelrecht unter den Blicken der anderen zusammen.
    Wenn die Leute ihn manchmal fragten, wie es ihm gehe, sagte er immer nur, er habe viel zu tun. Dann warf er in der Regel immer noch irgendetwas wichtig Klingendes ein, einen Satz, eine Wendung, die er von den Alten Griechen klaute. Diogenes in der Tonne fehlte bei keiner Gelegenheit. Mateo verschaffte sich auf diese Weise bei einigen alten Menschen im Dorf Respekt, die ihn für redegewandt hielten. Am meisten hatte Mateo Angst vor menschlicher Nähe, an ein Mädchen und ihre Haut, vertraute er mir einmal unter unserem Lieblingsbaum an, wage er nicht einmal zu denken. Wie alle jungen, unerfahrenen Männer war er vom weiblichen Körper überfordert, nur glaubte er, das Problem ganz allein zu haben, und immer, wenn er einem Mädchen näherkam, wusste er nicht, was er genau machen und wie er es ausziehen sollte. Da ich damals selbst noch gar keine Brüste hatte, konnte ich ihm keinen Rat geben. Ich verstand ihn überhaupt nicht. Sein Problem war für mich ein großes Rätsel. Ich litt an noch größerer Unwissenheit als er, sagte aber, dass es doch ganz einfach sei, er solle es so machen wie in den amerikanischen Filmen.
    Ich glaube, er hat später nie wieder mit einem anderen Menschen darüber geredet. Meine Mutter ist sich sicher, dass er bis heute mit keiner Frau geschlafen hat. Als der neue Staat Männer einzog und an die Kriegsfront schickte, meldete Mateo sich als erster Freiwilliger. Den Vielvölkerstaat gab es nicht mehr, die Nation war jetzt eine große Entdeckung für ihn. Und weil sein Leben sonst keinerlei Bedeutung, Schmerz oder Verlust kannte, davon jedenfalls waren jetzt alle überzeugt, die meine Mutter von früher kannte, wollte Mateo sich in den Dienst seiner Nation stellen. Er selbst erzählte viele Geschichten von der Front, die beweisen sollten, wie wichtig ihm sein Land war, in dem, hieß es allenthalben, so viele Helden lebten. Er hatte seine Freunde neben sich im Graben sterben sehen, vom Tod angezogene, große Pferdefliegen zerfraßen ihre Münder und Augen. Aber Mateo, der Philosoph, wollte seinem eigenen Bekunden nach standhaft bleiben, seinem Land dienen und für das Gute, für seine über Jahrhunderte unterdrückten Leute und seine geknechtete Nation einstehen.
    Meine Mutter erzählte beim Frühstück von ihm, ohne Nadeshda und mich auch nur einmal anzusehen. Sie sagte, dass er mit einer Waffe in der Hand endlich habe zeigen wollen, dass er kein Feigling sei. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich schwieg, war trotz meiner Enttäuschung nicht bereit, Mateo sofort zu verurteilen. Das schien sie zu ärgern. Dein Bild von ihm, sagte sie mit rauer Stimme, ist noch eines aus den istrischen Sommern. Es habe sich aber seitdem alles geändert. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie wütend auf mich war, weil ich mich immer einer Rückkehr verweigert hatte. Ich fühlte, dass in ihren Worten auch ein unausgesprochener Vorwurf lag und sie mir sagen wollte, ich könne nicht mitreden, weil ich nicht da gewesen sei. Sie hatte recht, ich war nicht da, bis heute weiß ich nichts über die beharrliche Klebrigkeit menschlichen Blutes. Der bittere Zorn, der aus ihr sprach, blieb mir fremd, und die Geschichten, die sie

Weitere Kostenlose Bücher