Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
so wie ich ein zementierter Garten sein und sich nichts anmerken lassen. Aber an den Tag in Bièvres dachte ich doch, er war nicht zu verdrängen. Und zum ersten Mal meldete sich mein Gewissen, das ich sofort zur Seite drängte. Ich wollte nicht an den Jungen denken, ich wollte überhaupt nicht denken, an nichts, was in der Vergangenheit geschehen war und was mich an Arik erinnerte.
Nadeshda küsste mich auf die Stirn und holte ein Album aus ihrem Zimmer. Fotos von Ilja, sagte sie. Mir stockte der Atem. Ich erkannte sofort seine grünen Augen. Ilja, meine erste Liebe, er war jener Ilja, der mein Ilja gewesen war. Das schelmische Funkeln seiner Iris werde ich nie vergessen. Zuerst schwieg ich, aber dann brach die Wahrheit aus mir heraus. Ich erzählte ihr von unserem ersten Kuss, von der alten Synagoge, den Murmeln, die er mir geschenkt hatte. Nadeshda trug schweigend das Album fort und sagte, als sie wieder ins Zimmer kam, das machen wir zwei schon, wir ziehen das Kind gemeinsam auf. Und als ihr Sohn Ezra zur Welt kam, hatte er die gleichen grünen Augen wie sein Vater.
Wir lebten eine Weile zu Dritt in Nadeshdas Wohnung. Ich fuhr mit dem Fahrrad täglich zum Kurfürstendamm und entwarf Kostüme für eine Inszenierung, in der die Schauspieler ständig schrien und sich nackt auszogen. Am Ende der Vorstellung hatten sie fast alles zerrissen, was ich über Wochen hinweg für sie genäht hatte. Das gefiel mir besser, als mich Philosophin zu nennen, obwohl mir der Gedanke einen Stich versetzte und es mir wehtat, dass ich es nicht geschafft hatte, mein Studium zu Ende zu bringen. Die Zeitungen schrieben positiv über das Theaterstück. Als mein erstes Gehalt kam, bezahlte ich die Rechnungen, die sich in unserer gemeinsamen Wohnung angesammelt hatten.
Nadeshda und ich saßen in Sophies Restaurant, als seien wir nie aus Paris fortgezogen. Wieder waren Jahre vergangen, wieder fasste meine Erinnerung sie blitzartig zusammen. Die Zeit konnte nichts beweisen, alles, was mein Leben war, dachte ich, ist unbeweisbar nach Innen verlagert worden. Das Restaurant leerte sich langsam. Parfümella war verschwunden, wir waren froh, dass sie nicht viel mit uns gesprochen hatte. Ich erzählte Nadeshda von Ariks Wohnung und dass ich dort sein Wasser getrunken hatte. Wasser, sagte ich, das ein Mann gekauft hat, der jetzt ein Toter ist. Sie schubste mich beim Aufstehen mit dem Ellenbogen an, um mich aufzumuntern. Aber wir konnten nicht lachen, beide spürten wir, dass jetzt die eigentliche Arbeit für uns begann, etwas, das den Abschied in allen seinen Abgründen einem wirklichen Ende zuführen und in einem großen Punkt hinter dem Arik-Kapitel münden würde. Ich ging zuerst ohne Nadeshda an die Place Dauphine, weil ich das Bedürfnis hatte, mich diesem Augenblick ohne ihre Hilfe zu stellen.
Als ich wieder in die Wohnung kam, stand Signora Souza in der Küche und putzte bereits. Wasch- und Spülmaschine liefen schon, und sie hatte die Fenster geöffnet. Sie umarmte mich, bevor auch ich mich meiner Aufgabe stellte. In Ariks Wohnzimmer machte ich alle Schränke auf und fand unzählige Alben, die fein säuberlich beschriftet und chronologisch sortiert waren. Ich trat vor Schreck einen Schritt zurück und ging weg, ging in den anderen Räumen umher, öffnete auch dort die Schränke. Aber überall und auch in seinem Arbeitszimmer fand ich das gleiche System mit den Alben vor. Sogar im Schlafzimmer hatte er akribisch in den Kommoden und Kleiderschränken die gleiche Art Archiv angelegt. Mit trockenem Hals rief ich instinktiv nach Signora Souza. Ich wollte mich diesen Alben nicht allein aussetzen. Mir fiel Clément ein, sein kühler Keller und die unzähligen Ausgaben von Paris Match . Ich zog das Album heraus, auf dem das Jahr unseres Kennenlernens stand. Er hatte unzählige Fotos von mir gemacht – in dem kleinen Café in einer der Nebenstraßen an der Bastille, in der Zeit, in der ich noch bei meiner traurigen Tante Mila wohnte. Hunderte Porträts hatte Arik von mir gemacht, ohne dass ich etwas bemerkt hätte. Mal war mein Haar gebunden, mal offen, manchmal trug ich ein Tuch, manchmal eine Mütze. Diese detaillierten, dokumentarischen Nachweise meines Lebens waren wie eine Zeitreise zurück an den Anfang der Neunzigerjahre, eine Reise, gegen die ich mich sträubte, jetzt aber war ich meiner Erinnerung hilflos ausgeliefert. Es kam mir vor, als hätte er jeden einzelnen meiner Café Crèmes fotografiert, jeden Orangensaft, den ich getrunken
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