Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Arik und wiederholte immer wieder, dass wir die Alben einfach fortwerfen sollten. Als wir ihr nicht antworteten, drehte sie sich um, schüttelte im Weggehen den Kopf, kam noch einmal zurück, stand vor uns, bekreuzigte sich mehrmals, ging schnell in die Küche und holte die ganze Flasche Schnaps ins Wohnzimmer. Wir saßen auf dem Boden und tranken. Das Telefon läutete immerfort. Wir gingen nicht dran. Bei Ariks Begräbnis kamen mir die Tränen, ich wusste nicht warum, vielleicht, weil der Tod mir trotz allem den Wert, zumindest die Möglichkeiten seines Lebens zeigte. Nadeshda weinte auch. Trauerten wir um Arik oder weinten wir, weil man eben um Tote weint? Oder weinten wir um uns? Vielleicht war es das, vielleicht weinten wir gar nicht um Arik, sondern nur um die Zeit unseres Lebens, die wir ihm gutgläubig überlassen hatten. Es waren Opfergaben, die wir mit Liebe verwechselt hatten. In Ariks Angst spiegelte sich unsere eigene. Sie war ein wuchernder Garten in der Nacht. Arik hatte uns geholfen, ihn zu finden, und das war nicht sein Vergehen. Die Zeit, der Ort und wir selbst waren unbeweisbar geworden, wie eine Katze an einem fernen Sommertag, ein Lächeln aus den letzten Tagen der Kindheit. Und wir wussten kaum noch, ob das, woran wir uns erinnerten noch immer unser Leben war oder nur unsere vom Leben und der Zeit übersetzte Erinnerung. Es war ein merkwürdig holziges und doch nicht minder wahres Gefühl, dass Ariks Aufnahmen unsere Erinnerung ergänzten und uns auf kleine, aber entscheidende Übermalungen verwiesen, die Gedächtnis und Zeit von allein vorgenommen hatten.
Clément und Arik lagen jetzt in der Tiefe der Erde, waren Nachbarn, einander in der Zersetzung anvertraut, Baumwurzeln wuchsen an ihren Gliedern vorbei, durch sie hindurch, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb und sie nur ein Teil der Erde waren. Aber blieb wirklich nichts von ihnen in unserer Welt zurück? Ich ging danach noch mehrere Male in die Wohnung an der Place Dauphine und fing an, Signora Souzas Rat ernst zu nehmen. Irgendwann fiel die Betäubung von mir ab, und ich begann, alles ungesehen fortzuwerfen. In die rue Fagon ging ich auch, zusammen mit Signora Souza räumte ich Ariks Atelier aus und schickte seine Bilder nach Berlin, da er mir auch seinen Nachlass vermacht hatte. Später wollte ich darüber nachdenken, was damit zu tun war. Nadeshda musste wegen Ezra nach Hause und kaufte sich gleich nach dem Begräbnis ein Ticket in einem Air-France-Reisebüro in der rue de Rennes. Eine Nachbarin und eine andere Freundin hatten eine Woche lang auf das Kind aufgepasst. Ezra hatte sie am Telefon angefleht zurückzukehren. Er fand sowohl die Freundin als auch die Nachbarin hässlich, erklärte er, und fürchtete, dass seine Mitschüler denken könnten, eine von ihnen sei seine Mutter.
Als sie weg war, hatte ich Angst, ohne Nadeshda noch einmal in Ariks Wohnung zu gehen. Noch hatte ich nicht alles entrümpelt. Jedes Mal, wenn ich mich auf den Weg machte, rief ich Signora Souza an und bat sie, auch an die Place Dauphine zu kommen. Sie erwartete mich schon dort mit einem Kaffee, Croissants und Brioche lagen auf dem Küchentisch. Ich war dankbar, dass sie vor mir in der Wohnung war und mich nicht allein mit dem Gedächtnis dieser Räume ließ. Nach der Operation konnte Arik nicht mehr sprechen. Er habe ihr sehr leid getan, sagte sie, er habe sich gequält bei dem Versuch, etwas zu sagen, aber er sei von seinem eigenen Körper zur Ruhe gezwungen worden. Schließlich habe er ihr alles auf einen Zettel geschrieben.
Arik war nicht nur mit Nadeshda und mir zeitgleich befreundet. Es fanden sich noch verschiedene andere Alben in den Schränken. Namen, Orte, Adressen, Eintrittskarten von Opern-, Theater- und Kinobesuchen, Restaurantangaben, Telefonnummern, Rechnungen aus exklusiven Hotels; ein paar auch aus der belagerten Stadt. Er hatte alles genauestens archiviert, wie ein Buchhalter, der sich über jeden Vorgang Gewissheit verschafft, akribisch, als hätte er dieses ganze Papier zur Orientierung für seine unergründliche Existenz gebraucht. Oder waren es in seinen Augen Beweise einer enormen Leistungsfähigkeit, eine unendliche Vielfalt an möglichen Leben sein eigen nennen zu können? Im Wohnzimmer hatte ich schon fast alle Schränke ausgeräumt. Signora Souza stopfte alles in große schwarze Müllsäcke und trug sie nach unten. Eine Hilfsorganisation, die Möbel sammelte und an arme Menschen an den Randbezirken der Stadt verteilte, sollte
Weitere Kostenlose Bücher