Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
hatte, ich sah Studien meiner Hände, Wangen, Ohren. Arik hatte mir genau solche Fotos von Menschen aus anderen Ländern gezeigt, das war seine übliche Strategie, so versuchte er immer sein Gegenüber genauer zu sehen. Und auch in den Krisengebieten ging er so vor. Auf diese Weise schoss er seit Jahren seine Fotos, die ihm von den Zeitungen abgekauft und überall gedruckt wurden. Später malte er dann diese Bilder nach, es waren gerade diese Details, die seine Sammler schätzten.
Signora Souza wollte mich davon abhalten, mir das Ganze genauer anzuschauen, sie riet mir, die Alben ungesehen wegzuschmeißen. Als sie aber meine Entschlossenheit sah, ging sie schnurstracks in die Küche und brachte uns einen Schnaps. Ich blätterte in diesem Album, auf dem mein Name stand, wie in einem fremden Traum. Arjeta Filipo. Ariks Handschrift. Seine Notizen. Er war mir überallhin gefolgt, wusste von Anfang an, wo ich wohnte, wusste von Tante Mila, vom Philosophischen Seminar am Boulevard Raspail, von Hiromi, von Nadeshda, von Onkel Milan und Tante Sof ij a genau wie von Mischa Weisband und von Silva, die er an jenem Tag bei Sophie fotografiert hatte, als sie mir von ihren Erlebnissen in den Donau-Auen erzählte. Ich ahnte schon, dass er auch von Silva ein Album angelegt hatte. Und später, als Signora Souza und ich in die rue Fagon in sein Atelier gingen und alles ausräumten, fand ich tatsächlich das Album von Silva und fünf Bilder, die er auf dieser Grundlage gemalt hatte. Von mir hatte Arik fast jeden Tag Fotos geschossen. Sogar das Datum der Zeitungen war zu erkennen, die ich in den Cafés las, auf den Titelseiten die Reportagen aus der belagerten Stadt, die Markthalle, schreiende Menschen, das Hotel Holiday Inn, Häuser mit Einschusslöchern, fliehende Kinder, eine betende Frau am Taubenplatz. Mir kam eine von Ariks allerersten Formulierungen in den Sinn, jener Satz, mit dem er mir zu verstehen gab, dass er mich schon eine Weile beobachtet hatte. Dich habe ich schon die ganze Zeit im Visier, das sagte er mit einem kleinen Lächeln, bei dem seine Grübchen sich auf den Wangen andeuteten. Und ich ging damals davon aus, dass er mich vielleicht einfach eine Stunde beobachtet und danach angesprochen hatte. Tag und Jahr hatte er dem Album vorangestellt. Auf der ersten Seite stand: Die Fremde. Das war der Titel des Albums, das, was gleich nach meinem Namen folgte. Er hatte mich im Bastille-Viertel an einem meiner ersten Tage als Dazugekommene erkannt. Im nächsten Album, das mit Fremde Nr. II betitelt war, folgten Fotos von Nadeshda und mir vor irgendwelchen Kinos, in denen wir uns verabredet hatten, in den Cafés, an Plätzen und Métrostationen. Allmählich begriff ich, dass Nadeshda mir wirklich die Wahrheit gesagt hatte, dass auch sie, genau wie ich, mit ihm ausgegangen war, weil er sie in einem Café angesprochen hatte. Sie kannten sich längst, als wir ihm in seinem Atelier Modell saßen.
Mein Herz pochte laut, ich blätterte weiter. Signora Souza brachte mir einen zweiten Schnaps und schnalzte verzweifelt mit der Zunge. Sie umarmte mich. Ein böser Druck baute sich in meiner Stirn auf. Es klopfte dringlich in meiner Schädeldecke, als würde der Kopf zerplatzen. Ich hatte Angst, dass er auch meine Absencen fotografiert hatte. Aber es war keine Spur von den Lücken zu sehen, zumindest sah ich nicht so entstellend aus, wie ich mir vorgestellt hatte. Auf einigen Fotos hatte ich lediglich die Augen geschlossen und lehnte mich an die Wand des Cafés. Es sah so aus, als befände ich mich in einer Art steinerner Verzückung.
Zum ersten Mal fällt mir auf, dass stille Abwesenheit und verrückte Anwesenheit in einem menschlichen Gesicht einander zum Verwechseln ähnlich sind. Er hatte mich auf allen möglichen Plätzen der Stadt fotografiert, immer mit einem Buch in der Hand, ich las Jean-Paul Sartre im Jardin des Plantes, im Jardin des Tuileries, im Bois de Bologne, im Parc des Buttes-Chaumont. Ich trat aus kleinen Boutiquen, aß in Sophies Restaurant, kniete in der Kirche Saint-Germain-des-Prés, mit erhobenem Kopf und einem Blick auf die blaue Sternenkuppel, war bei einem Schubert-Konzert mit Hiromi in der kleinen romanischen Kirche Saint-Julien-le-Pauvre, gegenüber Notre Dame, in Brasserien, beim Essen von Moules-Frites auf dem Boulevard Saint Michel, vertieft in Jules Michelets Buch Das Meer , im Café Bonaparte, der rue de Seine, rue Mazarine. Und es ging immer so weiter, fast jeden Tag hatte er mich im Visier gehabt,
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