Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Es half nichts. Ich musste in den Spiegel sehen, der ich selbst war. Was ich sah, kam mir jetzt vor wie der Blick auf die Geschichte eines anderen, von mir getrennten Menschen, den ich nie in mich hatte aufnehmen wollen. Im Gegenteil, diesem kalten Wesen wollte ich alle Türen versperren. Nie wollte ich dieser Mensch sein. Und so bin ich gerade deshalb genau dieser Mensch gewesen. Die Lüge hat mir geholfen, sie war eine Brücke, die durch Ariks Tod wieder zerstört wurde und mich auf alles zurückwarf, was ich mit ihm erlebt hatte. Und ich musste einen neuen Weg finden, um auf das andere Ufer, die noch unbeschriebene Seite meines Lebens zu gelangen. Mischa hat mir bei seinem Besuch Fotos von dem Jungen aus Bièvres mitgebracht. Aber ich habe sie mir nicht angesehen. Ich kann es bis heute nicht. Die Fotos liegen in einem kleinen blauen Kästchen. Ich habe Angst davor, das Kästchen aufzumachen und das Gesicht des Jungen zu sehen.
Als uns die Nachricht von Ariks Tod erreichte, wollten weder Nadeshda noch ich nach Paris reisen. Aber Ariks Testament zwang mich dazu, und mir war nicht danach, allein in die Wohnung an der Place Dauphine zu gehen. Ich bat Nadeshda darum, mich zu begleiten. Signora Souza hatte ein mit Schreibmaschine getipptes Testament gefunden, das aber ungültig war, weil Arik es am Ende in der für ihn typischen Nachlässigkeit nicht einmal unterschrieben hatte. Aber beim Amtsgericht fand sich dann doch noch eine spätere Version, handschriftlich und mit Datum und Unterschrift versehen. Beim Notar stellte sich heraus, dass Arik mir die Wohnung in der Bretagne vermacht hatte. Wir hatten uns nie wieder nach meinem Fortgehen aus Paris gesehen, und es wunderte mich, dass ihm unsere Zeit, vor allem jener lange, glückliche August in der Bretagne so viel bedeutet hatte, dass er ihn auf diese Weise weiterleben lassen wollte. Nadeshda sagte, jeder liebt auf seine Weise, es ist vielleicht wegen eurem Jungen. Es war euer August. Egal was war, dachte ich, es wird immer unser August bleiben. Nadeshda umarmte mich. Es gab nichts weiter dazu zu sagen.
Als wir an der Place Dauphine ankamen, bat ich sie, mich allein zu lassen. Beim Notar hatte ich erfahren, dass es auch andere Erbinnen gab, auch einen jungen Erben, den Namen sagte man mir nicht, aber es konnte sich nur um Ariks Sohn aus Kanada handeln, den er während unserer gemeinsamen Jahre allen seinen Freunden und Bekannten, seinen Galeristen, den Zeitungen, nur nicht seinem Onkel Clément verheimlicht hatte. Arik vererbte mir nicht nur das Haus am Meer. Er hatte auch eine nachdrücklich im Testament formulierte Bitte, die mir Angst machte und die mich noch mehr als sein Erbe überraschte. Es ging um die Wohnung an der Place Dauphine. Ich sollte sie ausräumen und seinen Hausstand auflösen. Widerwillig ließ ich mich auf den Gedanken ein, und als Nadeshda die Wohnung verließ, um für uns ein Hotel in der Nähe zu suchen, ging ich zuerst durch alle Räume und sah dann eine ganze Weile auf die Seine hinunter. Die Erinnerungen redeten auf mich ein, Ariks Sätze, meine Sätze, Abende, Wochenenden, Nächte, Tage, die wir zusammen dort verbracht hatten. Alles war wieder zum Greifen nahe, und doch war es längst vergangen, längst von mir abgefallen. Ariks Räume und mein Körper schienen gemeinsam an einem Gedächtnis teilzuhaben, das wie ein Echo war, nicht zu verorten, nicht zu berühren. Und zum ersten Mal gelang es mir, diese inneren Bewegungen zu sehen, sie zu beobachten, ohne mich von ihnen davontragen zu lassen. Ich spürte einen deutlichen Schmerz, der mich auf die ungenutzten Möglichkeiten meines Lebens und auf die Frage verwies, die ich mir schon unzählige Male gestellt hatte: Welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes ersehnen? Statt eine Antwort zu finden, nahm ich für immer Abschied und Abstand von dieser Frage. Ich sah in jenem Augenblick meine Verluste, aber genauso wusste ich auch, dass ich nicht alles verloren hatte, dass man als Mensch nie alles verlieren kann. Es waren die Lücken, die mir geholfen hatten, mein Leben zu ändern und in einen neuen Lebenskreis einzutreten. Der Vogel auf meiner Schulter schaute zu, er war der Zeuge meiner neuen Augen. Vom Fenster aus sah ich, dass der Fluss mehr und mehr von der Sonne erfasst wurde, die Seine schimmerte fast fröhlich und frühlingshaft beschwingt war ihr Versprechen. Das alte Kaufhaus Samaritaine sah ich auch. Hier hatte sich Arik die bunten Pullover gekauft, die ich dann in Cléments
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