Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
anderntags kommen und die Einrichtung abholen. Ich musste noch das Arbeits- und das Schlafzimmer ausräumen. Wieder stieß ich auf weitere Alben, noch ältere, sie waren an die zehn, fünfzehn Jahre vor unserem ersten Treffen entstanden und ebenfalls mit Datum und Namen versehen. Dann sah ich, dass drei Jahre vollständig fehlten. Vielleicht war er in dieser Zeit ein bisschen glücklich gewesen. In den Schubladen fand ich auch Briefe, ich sah sofort, dass es Liebesbriefe waren, aber keine von Arik geschriebenen. Es waren die Briefe seines Vaters an die offenbar schon damals kranke Mutter. Die schwungvolle Männerschrift war fast verblichen. So viele handgeschriebene Liebesbriefe hatte ich noch nie gesehen. Als ich einige der Umschläge umdrehte, sah ich, dass sie alle an die Place Dauphine und an Ariks Mutter mit ihrem Mädchennamen adressiert waren. Sie musste also mit ihrer Familie schon damals hier gelebt haben und im Besitz der Wohnung gewesen sein. Arik war nie ausgezogen, war einfach nach dem Fortgehen des Vaters und später nach dem Tod der Mutter hier wohnen geblieben. Fotos der Mutter, die ich, ohne zu wissen warum, sofort erkannte, fielen aus den Umschlägen heraus. Eine langhaarige Frau mit blonden Naturlocken. Große braune Augen. Volle Lippen. Ein traurigschwerer Blick. Eine Frau aus einem ganz anderen Jahrhundert. Im Schlafzimmer fand ich noch sehr viele Kleider der Mutter. Sie hingen alle nach Farben geordnet im Schrank, so als würde sie noch hier wohnen. Jedenfalls nahm ich an, dass die Kleider nicht einer anderen Frau gehörten, weil sie etwas altmodisch aussahen, ein wenig muffig rochen und zu der Frau auf den Fotos passten. Sie hatte einen guten Geschmack. Die Kleider hatten alle eine klare Linie, einige Bleistiftröcke waren darunter, passende Seidenblusen. Arik war es offenbar in all den Jahren nicht gelungen, sich von den Hinterlassenschaften seiner Mutter zu befreien. In seiner Schreibtischschublade fand ich Tagebücher, Zeichnungen und Reisenotizen. Ein Tagebuch bestand aus seitenlangen Briefen an die Mutter und den Onkel, Entwürfe, die er dann allem Anschein nach nie abgeschickt hatte. Sie enthielten Beschreibungen von Jahreszeiten, von fremden Menschen und Verwandten, von Bäumen, Häusern und den Parkanlagen der Stadt. Die Notizen passten überhaupt nicht zu dem unentschiedenen, kühlen Menschen, den ich gekannt hatte. Ich hatte vor seinem Tod geglaubt, nichts in Ariks Leben würde auf mich verweisen. Aber das stimmte nicht ganz. Ich fand eine rote Kiste aus Pappmaché, in die er alles abgelegt hatte, was ihn an mich erinnerte, darunter war einer meiner alten Lippenstifte, meine silberne Puderdose, auf die er einmal aus Versehen in der Bretagne getreten war, ein Foto von mir und dem kleinen Hund Gustave am Meer, ein sehr schönes blaues Seidentuch mit weißen Segelbooten, das noch eingepackt war – vielleicht wollte er es mir schenken, vielleicht hatte er zu lange gezögert. Ich fand auch ein kleines Schmucketui, und es war ein schlichter goldener Ring darin, mit einer Gravur, Arjeta Filipo , stand da, für dich,1995, in unserem August . Sogar eine Falkenfeder, die ich auf einer kurzen Wanderung mit Arik hinter Versailles in den Wäldern gefunden hatte, bewahrte er hier auf, eine kleine Tafel Mariage Frères -Schokolade, die ich ihm in den ersten Wochen unserer Freundschaft geschenkt hatte, eine getrocknete Blume, die ich ihm bei unserem ersten Besuch in Cléments Garten gepflückt hatte und auch mein altes Jean-Paul-Sartre-Studienbuch, das ich anfangs immer mit mir herumgetragen und in dem ich unzählige Stellen angestrichen hatte, eine besonders nachdrücklich und mit einem Ausrufungszeichen versehen, fiel mir jetzt auf: »Der denkende Mensch zermartert ächzend sein Gehirn, er weiß, dass seine Erwägungen immer nur Möglichkeiten und keine Gewissheiten ergeben werden, er weiß nie, wohin er geht, er ist allem ›geöffnet‹, und die Welt hält ihn für einen Zauderer.« Ich legte das Buch in die Kiste zurück und dachte kurz daran, sie mit nach Berlin zu nehmen. Ich nahm das Seidentuch und die Falkenfeder und warf den Rest fort, zuerst auch den Ring, was mir schwerfiel. Ariks Fotos von mir waren zu einem Archiv meiner Bewegungen und ersten Tage nach dem Krieg in Paris geworden. Arik hatte mein Leben nicht nur für sich, sondern auch, ohne es zu wollen, auch für mich dokumentiert. So unheimlich mir seine Vorgehensweise jetzt erschien, so genau war sein Blick auf mich. Die Bilder
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