KISSED
anzusehen. »Ich muss arbeiten. Und du auch.«
Sie geht wieder in ihr Café und beginnt, die Sandwichs – die bereits perfekt ausgesehen haben – in ihrem Glaskasten neu anzuordnen. Sie ist so vertieft in das, was sie tut, dassich für den Rest des Nachmittags ihren Blick nicht mehr auf mich ziehen kann. Ein paarmal glaube ich zu spüren, dass sie mich anschaut, aber dann senkt sie den Blick gleich wieder, und ich frage mich, ob sie sauer auf mich ist, weil ich gesagt habe, dass Victoriana schön ist. Aber das ist ja wohl kaum was Neues.
Oh, na schön. Ich werde es wieder gutmachen. Ich habe ja jetzt Zeit.
Ich fange mit der Arbeit an Victorianas Schuh an, auch wenn ich das eigentlich nicht will, denn sobald ich ihn abliefere, werde ich ihr sagen müssen, dass ich es nicht mache. Der gerissene Riemen ist dünn, aber robust, und während ich ihn repariere, freue ich mich schon darauf, sie wiederzusehen und ihn über ihren Fuß zu streifen.
Wenn es doch nur nicht das letzte Mal wäre, dass ich sie sehe.
11
Es ist ein Wunschmantel; wenn du ihn um die Schultern wirfst, brauchst du dich nur an einen Ort zu wünschen, und im Augenblick bist du dort.
~~~ Der Krautesel ~~~
Als ich den Schuh fertig repariert habe, rufe ich in der Suite der Prinzessin an und frage, ob ich ihn nach oben bringen kann.
Wie erwartet, fällt die Antwort knapp aus. »Non. Isch werde kommen und ihn ’olen.«
Kaum dass ich aufgelegt habe, ist er auch schon unten. Ich erkenne Bruno, den Bodyguard, von dem Victoriana sagte, dass sie ihm am meisten vertraut. Der, der sich praktisch einen Gesichtsmuskel verstaucht hat, als er uns anfunkelte. Ich reiche ihm den Schuh und stehe stumm herum, weil ich nicht weiß, was ich als Nächstes sagen soll.
Bruno bricht das Schweigen. »Wenn du glaubst, sie ’ätte eine Botschaft für dich – sie ’at keine. Jungen wie du sind nur Spielzeuge für Ihre ’oheit.« Sein Englisch ist überraschend gut, sein Akzent ist viel weniger ausgeprägt als Victorianas. »Der Flirt mit dir bedeutet nichts. Die Prinzessin ist bereits verlobt.«
»Echt? Ihrer eigenen Meinung nach aber nicht.« Ich bereue die Worte in dem Moment, als sie meinen Mund verlassen. Wozu mit ihm streiten?
Er macht ein finsteres Gesicht. »Die Prinzessin, sie ist nicht besonders klug. Sie ist mit ihren Gedanken überall und nirgends. Man muss sie beschützen.«
Ich höre dahinter die unausgesprochenen Worte: vor dir .
Ich zucke die Achseln. »Ich wollte ihr nur den Schuh geben. Das habe ich hiermit getan.«
Zuerst sieht es aus, als wolle er sich noch weiter mit mir anlegen, er muss sich aber dagegen entschieden haben, weil er plötzlich auf dem Absatz kehrtmacht und geht. Eine Stunde später lässt eines der Zimmermädcheneine Schlüsselkarte auf meine Ladentheke fallen. Ohne zu fragen, weiß ich, dass es der Schlüssel zu Penthouse B ist.
Um ein Uhr fünfundfünfzig in der Nacht durchquere ich die Lobby, wobei ich bei jedem Schritt das Quietschen meiner Turnschuhe auf dem Marmorfußboden höre. Es ist die perfekte Zeit. Die nächtlichen Partybesucher sind fast alle schon wieder da, und die Auftragskarten für den Zimmerservice sind bereits abgeholt, aber die USA Today- Exemplare werden noch nicht zugestellt. Der Papageienkäfig in der Lobby ist abgedeckt, und die Schwäne schlafen. Der Nachtportier spielt ein Computerspiel, und die Frühschicht der Zimmermädchen hat noch nicht angefangen staubzusaugen. Ich bin allein und bleibe unbemerkt. Der Aufzug saust nach oben. Ich spüre, wie meine inneren Organe zusammengepresst werden. Ich frage mich, ob ich anklopfen muss. Wird der Bodyguard vor der Tür stehen? Wird er mich verjagen?
Als das Bing! ertönt, zucke ich wie elektrisiert zusammen. Die Aufzugtür beginnt sich schon zu schließen, bis ich mich von dem Schreck erholt habe, aber als ich dagegendrücke, geht sie sofort wieder auf.
Victoriana erwartet mich, als ich eintrete. Sie hat einen der weißen Hotelfrotteemäntel an, ihr blondes Haar ist in Zöpfe geflochten, die ihr fast bis zur Taille reichen, und sie sieht aus wie ein Engel auf einer Weihnachtskarte. Sie presst einen Finger auf die Lippen und packt mich am Handgelenk. Ihre Haut fühlt sich kalt an, und ich merke,dass sie Angst hat; deshalb bekomme ich auch Angst. Sie zieht mich in die Suite. Es ist stockdunkel, wenn man mal von dem Streifen Mondlicht auf dem orientalischen Teppich absieht, der die abgetragenen schwarzen Schuhe des schlafenden Bodyguards beleuchtet. Ich
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