KISSED
Vorhang vor mein Gesicht. Als ich eine Sekunde später wieder heruntergucke, ist sie verschwunden. Ich muss wohl eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal hinausschaue, sind die Autos und Motorräder alle weg, bis auf eines, das Sam oder einem einsamen Gast gehören könnte. Draußen ist nichts, nur Sterne. Ich werfe einen Blick auf die Digitaluhr, die auf dem Tisch steht, auf den ich die Schuhzeichnungen gelegt habe. Vier Uhr morgens. Zeit loszulegen.
21
Ich nehme alles mit, denn ich werde nicht zurückkommen. Mir fällt ein, dass ich Sam um seine dreihundert Mäuse betrogen habe. Ich denke daran, sie ihm dazulassen, einfach nur, weil ich lächerlich ehrlich bin, aber dann entscheide ich mich dagegen. Immerhin klaue ich gleich seinen Vogel. Ich werde den Umhang benutzen müssen, ich werde gut sein müssen, und vor allem werde ich weg sein müssen, wenn er aufwacht.
Als ich nach draußen in den Flur trete, wickle ich den Umhang um mich.
Das Motel ist zu still, so still, dass jeder Schritt knarrt und donnert. Ich benutze den Umhang, um nach untenzu gelangen, aber nicht in die Bar. Noch nicht. Wenn ich mich irre, wenn sich der Fuchs getäuscht hat und die Bar nicht leer ist, möchte ich rasch fliehen können. Ich stehe vor der Tür. Die Glühbirne darüber ist durchgebrannt, aber der Mond scheint hell. Ich sehe meinen Schatten, er ist sehr lang. Die Dunkelheit ist beruhigend, aber gleichzeitig beängstigend. Da draußen könnte jeder sein, einschließlich der Person, die mich gestern verhext hat.
Ich spähe in die Bar. Niemand da, genau wie der Fuchs gesagt hat. Niemand außer dem Vogel. Ich bin entweder allein oder so gut wie erwischt, deshalb mache ich die Taschenlampe an und leuchte in den Käfig. Er glänzt so golden wie der Morgen. Selbst die Federn des Vogels schimmern wie vierundzwanzig Karat. Ich achte darauf, dem Vogel nicht in die Augen zu leuchten. Ich will ihn nicht aufwecken.
Ich erinnere mich an die Anweisungen des Fuchses: Nimm den Vogel aus dem goldenen Käfig, und setze ihn in den Holzkäfig. Aber warum? In dem Käfig, in dem er ist, wäre er viel einfacher zu transportieren. Aber ich erinnere mich daran, was das letzte Mal passiert ist, als ich die Anweisungen des Fuchses nicht befolgte.
Ich benutze den Umhang auch, um nach drinnen zu gelangen. Keine Kunststückchen. Als ich drin bin, stopfe ich den Umhang in meinen Rucksack und leuchte mit der Taschenlampe über den Fußboden, um nach dem Holzkäfig zu suchen. Schließlich entdecke ich ihn an der anderen Wand. Er liegt auf der Seite, und das Türchen ist zu.Ich gehe hin und versuche es zu öffnen, aber der Riegel klemmt. Ich ziehe daran. Das Türchen reißt ab.
Ich fluche verhalten. Wie soll ich den Vogel in einen kaputten Käfig setzen? Trotzdem packe ich den Käfig am Griff.
Der Griff fällt auch ab.
Wie hält dieser Typ den Vogel in diesem lausigen Käfig? Aber vielleicht hält er ihn deshalb nicht bei Nacht da drin. Er setzt ihn in den stabileren Käfig und benutzt tagsüber den weniger protzigen.
Ich greife den Käfig an seinem hölzernen Seitenteil – und habe eine Hand voll Stäbe.
Ich fluche wieder.
Ich schaue zu dem Vogel hinauf. Meine Augen sind jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, deshalb schalte ich die Taschenlampe aus. Der Vogel schläft tief und fest. Ich werde wohl den goldenen Käfig nehmen müssen. Welchen Unterschied macht das schon? Wenn der Fuchs den Vogel aus seinem Käfig herausholen will, dann muss er das schon selber machen.
Trotzdem, dort im dämmrigen Zwielicht lässt es mir keine Ruhe. Wenn es ein Test ist, bei dem es um Ehrenhaftigkeit geht, dann bin ich durchgefallen. Aber ich habe keine andere Wahl, deshalb ziehe ich einen Barhocker zum Käfig, und balanciere dann darauf, um an den Vogel zu kommen. Ein Hauch von Mondlicht schimmert auf seinen glänzenden Stäben. Ich berühre ihn mit den Fingerspitzen.
»Krächz!«
Ich zucke zusammen. Der Hocker beginnt zu schwanken. Gerade noch rechtzeitig halte ich mich an der Theke fest, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Ich blicke wieder zu dem Vogel hinauf. Unmöglich, er schläft. Ich greife wieder nach dem Käfig.
»Krächz!«
Dieses Mal habe ich es erwartet, deshalb zucke ich nicht zusammen. Aber ich lasse los. Das Krächzen verstummt, und der Vogel schläft wieder.
Ich greife zum dritten Mal nach dem Käfig. Der Vogel beginnt wieder zu krächzen und zu kreischen, aber dieses Mal ignoriere ich ihn und nehme den Käfig von seiner Stange. Er ist
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