KISSED
schwer, aber nicht so schwer, dass ich ihn nicht tragen könnte. Wenn mir nur nicht der blöde Vogel die ganze Zeit im Schlaf ins Ohr krächzen würde.
»Halt die Klappe«, sage ich zu ihm. Aber er gehorcht nicht. Dann höre ich über mir Schritte, schwere, schnelle Schritte. Ich bin dem Untergang geweiht. Norina oder Onkel Sam werden mich schnappen. Sie werden die Cops rufen oder Schlimmeres. Sie werden diesen Typen anrufen, der mich umbringen will. Ich lasse den Käfig fallen und fange ihn gerade noch mit meinem Körper auf, bevor er auf den Boden kracht. Ich stelle ihn ab. Sobald ich ihn loslasse, hört der Vogel wieder auf zu krächzen und schläft.
Die Schritte sind jetzt auf der Treppe und kommen näher. Zu nah. Wer immer da kommt, hat keinen Grund, leise zu sein. Ich schaue mich nach einem Versteck um,aber keine Chance, den Vogel oder den kaputten Holzkäfig zu verstecken. Ich bin verloren.
Mir fällt der Umhang ein. Ich ziehe ihn aus meinem Rucksack und werfe ihn über mich.
Ich wünschte, ich wäre im Müllcontainer mit dem Fuchs. Gerade, als ich mir das wünsche, fällt von draußen ein Lichtstreifen neben mir auf den Boden.
Ich bin in Sicherheit. Na ja, so sicher man eben sein kann in einem Müllcontainer, der direkt neben dem Haus steht, das man gerade versucht hat auszurauben. Ich zerre am Umhang, der irgendwo festhängt.
Neben mir rührt sich der Fuchs.
»Hast du ihn?«, fragt er.
»Nicht direkt«, gestehe ich.
»Nicht direkt? Entweder du hast ihn oder du hast ihn nicht.«
»Ich habe ihn nicht«, gebe ich zu.
»Warum nicht? Kannst du keine simplen Anweisungen befolgen?« Der Fuchs klingt wie meine Mutter, wenn ich was vermasselt habe.
»Sie waren nicht simpel. Der Vogel hat aus voller Kehle gekrächzt, als ich versucht habe, ihn zu bewegen.« Wieder zerre ich am Umhang, aber irgendetwas liegt auf ihm drauf. Außerdem ist er nass.
»Du hast versucht, ihn in seinem goldenen Käfig zu bewegen, nicht wahr? Es war nicht der Vogel, der gekrächzt hat, sondern der Käfig selbst. Er ist alarmgesichert,damit er nicht bewegt werden kann. Deshalb muss der Vogel in den Holzkäfig gesetzt werden.«
»Aber der ist kaputtgegangen.«
»Was du nicht sagst.« Einen Moment lang ist er still. Ich auch. Wir sitzen da, riechen das Bier und den Abfall, lauschen den Fliegen um uns herum. Das Essen bei Sam war nicht annähernd frisch. Verflucht, der Gestank ist unerträglich.
Schließlich sagt der Fuchs: »Nun?«
»Nun was?«
»Gehst du zurück und holst mir diesen Vogel?«
»Spinnst du? Wenn ich zurückgehe, schnappen sie mich, und ich wandere ins Gefängnis. Oder sie rufen diesen Serienmörder an, der mich verfolgt.«
»Na ja, hier kannst du jedenfalls nicht bleiben. Raus aus meinem Müllcontainer.«
»Ich kann jetzt nicht raus.«
»Du kannst es, und du wirst es.«
»Gib mir noch einen Moment.« Wieder zerre ich an meinem Umhang.
Spitze Krallen bohren sich mir in den Arm. Ich sehe hoch. Der Fuchs fletscht seine Zähne.
»Bitte«, sage ich, »ich brauche nur …«
»Und ich brauche den Vogel. Ich war vielleicht früher mal ein Mensch, aber jetzt bin ich ein Fuchs, und im Moment fühle ich mich ein wenig tollwütig. Geh, und komm nicht ohne diesen Vogel zurück.«
Ich greife ein letztes Mal nach dem Umhang, aber derFuchs stürzt sich auf mich, und ich bin gezwungen, mit leeren Händen aus dem Müllcontainer zu klettern.
Vom Hoteleingang her höre ich Lärm. Ich wanke zur anderen Seite, auf die Straße zu. Wenn ich es schaffe, sie zu überqueren, kann ich entkommen.
Dann entdecke ich im Mondlicht ein Schimmern goldener Federn.
»Suchst du das hier?«, fragt eine Stimme. Norinas.
22
»Was? Nein… ähm…ich suche gar nichts. Ich habe nur…«
»Nur so zum Spaß im Müllcontainer herumgewühlt?«
»Nein, ich habe …« Mit einem Fuchs geplaudert? »Ich meine, ich habe tatsächlich etwas gesucht. Meine Zahnspange. Genau. Meine Zahnspange. Ich habe sie auf dem Teller liegen gelassen, als du mir das Abendessen gebracht hast.«
Gut. Das ist gut. Ich bin froh, dass es nicht ihr Onkel war, der mich gefunden hat. Ich merke, dass der Vogel und der Käfig jetzt beide vollkommen still sind. Blöder Vogel. Trotz allem lächle ich. »Ich glaube, ich schaue morgen früh nach, ich bin müde.« Ich gähne und will einfach an ihr vorbeigehen. Ich weiß, dass ich am Morgen ohnehin nicht mehr da sein werde.
»Du lügst.«
»Nein, tue ich nicht!«
»Du hast gar keine Zahnspange getragen, als ich dir das Essen
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