Klagelied auf einen Dichter
wissen, daß ich keine
Klatschgeschichten erzähle. Das sind Fakten, die man mir anvertraut hat und die
ich vertraulich weitergebe. So lange dieser Vorfall nun auch schon zurückliegt
und auch wenn er sich am anderen Ende der Welt zutrug, könnte ich Ihnen, wie
der Zufall es will, schon morgen einen Augenzeugen beibringen. Ranald Guthrie
wollte sich dort im Hafen ertränken, und nur die Beherztheit seines älteren
Bruders rettete ihm das Leben.«
»Ein Bruder ging also mit ihm nach Australien?«
»Ian Guthrie. Auch er hatte über die Stränge geschlagen. Nichts
Schlimmes, soviel ich weiß: ich habe nie gehört, daß Ian künstlerische
Neigungen gehabt hätte. Wahrscheinlich ging es um nichts weiter als die jungen
Frauen; da müssen wir fair sein. Soviel ich weiß, gab es auch keine
Skandalgeschichten. Es hieß, daß beide Brüder hauptsächlich in die Kolonien
gegangen waren, weil sie nicht in den geistlichen Stand eintreten wollten. Als
Ranald dann den Besitz erbte, kam er natürlich zurück.«
»Ian war tot?«
»Ja. Ein Unglück. Ich glaube, die beiden waren auf einer
Forschungsreise oder Gold suchen oder so etwas, und Ian verirrte sich. Eine
Suchmannschaft fand später seine Leiche. Ranald, der, wie gesagt, ein labiler
Charakter ist, ist seither verwirrt.«
»Verwirrt?«
» Schwer verwirrt. Als er zurückkehrte,
begann er ein Leben als Sonderling. Wie ich höre, ist er das bis heute
geblieben; er lebt dort als Einsiedler und unverbesserlicher Geizhals.«
»Lebte.«
»Wie bitte, Wedderburn?«
»Ranald Guthrie ist tot. Und da wären wir in Perth. Ich muß mich
beeilen. Aber nein, Clanclacket, behalten Sie das Blackwood’s nur. Auf Wiedersehen.«
II.
Die Bahnstrecke von Perth nach Dunwinnie war noch nicht ganz vom
Schnee befreit, und so kam es, daß mein Zug mit über einer Stunde Verspätung eintraf.
Und damit nicht genug; endlich angekommen, hatte ich die größte Mühe, einen Fahrer
zu finden, der bereit war, sich auf die Gefahren einer Nachtfahrt nach Kinkeig einzulassen.
Ich erfuhr, daß Dr. Noble auf der Burg gewesen war, ebenso die Polizei und der Sheriff,
und daß der Sheriff es für nötig befunden hatte, eine gerichtliche Untersuchung
über Mr. Guthries Todesursache anzuberaumen. Es war also keine Zeit mehr zu verlieren,
und nachdem die Verhandlungen über den exorbitanten Preis, den der Fahrer forderte,
eine gewisse Mäßigung erzielt hatten – wenn auch kaum mehr als ein solacium –, verlief die Weiterfahrt nach Kinkeig ohne größere
Zwischenfälle, und ich langte kurz vor elf Uhr dort an. Es ist kaum mehr als ein
Weiler, und ich konnte mich glücklich schätzen, daß ich einfache, wenn auch ausreichende
Unterkunft im Gasthaus fand, das den lakonischen Namen »Kinkeig Arms« trägt.
Mein Mandant – ich ging davon aus, daß es der junge Mr. Gylby war – weilte noch auf Erchany, und dorthin gedachte ich am nächsten Morgen
weiterzureisen – oder besser gesagt: mich durchzupflügen. Dort würde ich
präzise Auskünfte erhalten können. Einstweilen fand ich es ratsam, nicht ganz
zu vernachlässigen, was an Gerüchten erzählt werden mochte. Ich ging zum Salon – die Bar war natürlich geschlossen – und läutete an der Tür. Die Wirtin, eine
Mrs. Roberts, ließ mich ein, und ich wandte mich an sie mit den Worten: »Seien
Sie doch bitte so freundlich und bringen Sie mir –«
»Was Sie jetzt brauchen«, unterbrach mich Mrs. Roberts mit einer
Stimme, die keinen Widerspruch duldete, »das ist eine schöne Tasse gemälzte
Milch.«
Es ist bewährte forensische Praxis und immer das sicherste Mittel,
den Fisch an Land zu ziehen, wenn man den exzentrischen Zügen im Charakter
eines Zeugen nachgibt. So entgegnete ich denn: »Genau was ich gerade sagen
wollte. Bringen Sie mir bitte eine schöne Tasse – ähm – gemälzte Milch.«
Mrs. Roberts eilte davon, und man muß fairerweise sagen, daß das
Getränk, mit dem sie zurückkehrte, nicht unschmackhaft war. Dazu kam, daß sie
in gesprächiger Stimmung war, und die nächste halbe Stunde lang ließ ich mir
von den Ereignissen auf Erchany erzählen, und es gab manche Stelle, an der ich
doch ein wenig die Augenbrauen hob. Vor kaum mehr als vierundzwanzig Stunden
war ich noch ganz in die friedliche Welt der Gebietsreformen des 18. Jahrhunderts
versunken gewesen. Nun saß ich hier und lauschte einer Geschichte, die alles
hatte, was, wie die Gelehrten uns sagen, zum Drama Senecas gehört: Rache, Mord,
Verstümmelung und ein
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