Klammroth: Roman (German Edition)
Ruck beugte sie sich vor und ließ den Motor an. Sie schwiegen, während Anais den Wagen zurück auf die Uferstraße und nach Osten Richtung Klammroth lenkte.
Hinter der nächsten Flussbiegung kamen die ersten Häuser in Sicht. Zu ihrer Rechten hatte das Wasser fast die Fahrbahn erreicht. Viel fehlte nicht mehr, dann würde der Fluss die Straße verschlingen. Die Häuser auf der linken Seite waren in den Hang gebaut. Die meisten lagen zu hoch, als dass sich ihre Besitzer Sorgen hätten machen müssen. Schlimmstenfalls würde die Strömung ein paar Vorgärten verwüsten.
Der Subaru passierte das Ortseingangsschild und den Platz, an dem früher das alte Kino gestanden hatte. In den Zwanzigerjahren war es ein Varieté gewesen und während des Krieges zum Filmtheater ausgebaut worden. Seit seinem Abriss vor einigen Jahren wurde die Schotterfläche als Parkplatz für Besucher ausgewiesen, die längst nicht mehr kamen.
Anais war seit ihrer Jugend – seit ihrer Flucht – einige Male hier gewesen, aber ihr letzter gemeinsamer Besuch mit Lily lag viele Jahre zurück. Es war seltsam; heute sah sie die Stadt zum ersten Mal wieder mit den Augen eines Kindes,mit Lilys Augen. Sie erinnerte sich an Dinge, die sie bis vor wenigen Minuten vergessen hatte. Sie sah ihr Klammroth, wenigstens für einen Moment. Danach verschwanden die Fassaden ihrer Kindheit wieder krachend wie Theaterkulissen im Boden, und das wahre Klammroth kam zum Vorschein.
Der Ortskern lag in einem Seitenarm des Flusstals. Fachwerkhäuser und Gründerzeitbauten bildeten ein Gewirr enger Gassen, eingefasst von den Resten einer Stadtmauer. Auf dem Tor schien ihnen eine bucklige Gestalt mit wehenden Gewändern zuzuwinken: Die Flagge mit dem Stadtwappen wurde vom Regen umhergepeitscht und hatte sich halb um den Fahnenmast gewickelt.
Über den Dächern zogen sich Weinberge an den Hängen hinauf. Die meisten wurden nicht mehr bewirtschaftet, seit die beiden größten Weingüter geschlossen worden waren.
Nachdem sie das Silo des Landhandels passiert hatten und durch das Urbanustor in den Ort gefahren waren, kamen sie an ehemaligen Ausflugslokalen und Hotels vorbei; die Hälfte davon trug das Wort Traube im Namen. Bis auf eine Kneipe am Marktplatz waren alle geschlossen, die Fenster von innen verhängt. In einer ehemaligen Konditorei hatte sich vor Jahren eine Videothek eingenistet, aber auch sie war längst in Konkurs gegangen. Jetzt hingen die Plakate vergessener Filme hinter schmutzigen Scheiben, durch die einst Wochenendtouristen bei Herrentorte und Kännchenkaffee das Treiben auf der Hauptstraße beobachtet hatten.
Heute war die Straße wie ausgestorben, und das lag nicht allein am Wetter. Anais war froh darüber. Ihre Ankunft in Klammroth würde sich schnell genug herumsprechen. Noch immer warfen viele ihr vor, sie habe mit Die Verbrannten Kapital aus dem Unglück geschlagen, das die Stadt vor siebzehn Jahren heimgesucht hatte. Anais verstand nicht, dass man sie als Opportunistin beschimpfte, während keiner hinterfragte, dass sich Theodora mit ihrer Schmerzklinik so kurz nach der Katastrophe hier angesiedelt hatte. Ein Akt der Nächstenliebe, der die Gründerin des Avila-Instituts zu einer schwerreichen Frau gemacht hatte.
Vor einem Geschäft für gebrauchte Kinderkleidung stand jemand unter einem Regenschirm und rauchte. Anais sank instinktiv ein wenig tiefer in den Sitz. Das Gesicht der Frau sah im Vorbeifahren aus wie ein verlaufenes Ölgemälde, und der Grund dafür waren nicht die Regenschlieren auf den Scheiben.
»Sie sind noch immer alle hier, oder?«, fragte Lily mit gesenkter Stimme, als könnte die Frau auf dem Gehweg sie hören.
»Die meisten, ja.« Wie zur Entschuldigung fügte sie hinzu: »Viele brauchen noch heute Behandlungen gegen die Schmerzen. Brandnarben hören niemals auf wehzutun, und die meisten von denen, die lebend aus dem Tunnel gekommen sind, hatten schwere Verbrennungen.«
Von den zweihundert Jugendlichen in den Bussen hatte sich gut die Hälfte mit verheerenden Wunden aus der Tunnelröhre retten können. Neunundachtzig waren in den lodernden Wracks verbrannt. Kaum jemand war so glimpflich davongekommen wie Anais, und in Wahrheit war es das, was man ihr vorwarf. Es habe die Falsche getroffen, gehörte zu den harmloseren Bemerkungen, die sie sich nach dem Unglück hatte anhören müssen. Irgendwann hatte ihr Vater entschieden, sie ins Internat zu schicken, möglichst weit fort von Klammroth und seinen Einwohnern, unter
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