Klammroth: Roman (German Edition)
wehte nur aus ihrer Erinnerung in die Wirklichkeit herüber. Oder doch aus dem Inneren des Berges? Sie würde nie ganz sicher sein, solange sie sich nicht vergewisserte.
Lily wich einen Schritt zurück, als Anais vor das Tor trat und behutsam eine Hand auf die raue Oberfläche legte. Einen Herzschlag lang durchzuckte sie die Gewissheit, dass die Berührung wehtun würde, weil die Hitze von vier brennenden Bussen den Stahl zum Glühen brachte.
Das Eisen war kalt und feucht vom Regen. Sie hatte schwere Sicherungsketten erwartet, einen aufgeschweißten Riegel. Doch da war nichts dergleichen. Nur ein Schlüsselloch mit rostzerfressenem Rand, das in seiner absurden Größe wie Dekor aus einem Märchenfilm wirkte. Der passende Schlüssel musste so lang sein wie ihr Unterarm.
»Hier.« Lily hielt ihr das Smartphone entgegen. Sie hatte bereits die Lampe eingeschaltet.
Nach kurzem Zögern ergriff Anais es mit der linken Hand, ließ aber die rechte, wo sie war. »Ach, Mist«, flüsterte sie und gab dem Eisenflügel einen Stoß.
Mit einem Knirschen schwang er eine Handbreit nach innen, schmirgelte mit einem furchtbaren Geräusch über Steine und verkeilte sich.
Und wenn jemand von innen gegen das Metall drückte?
Aber der Spalt war zu schmal, als dass ein Mensch hätte hindurchgelangen können. Das Feuer war längst erkaltet, und die Graffiti mochten Jahre alt sein. Niemand war hier. So wenig wie der Gestank nach brennendem Haar.
Hinter ihr trat Lily von einem Fuß auf den anderen.
Ein Klimpern erklang in der Dunkelheit jenseits des Spalts, wie Hundemarken an einem Halsband. Nur einmal, ganz kurz, dann herrschte Stille. Anais zuckte zusammen.
»Hast du das auch gehört?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Hmhm«, machte Lily.
Anais hob das Smartphone und leuchtete in die Schwärze. Sie konnte nur seitlich hinter den linken Torflügel sehen, für einen Blick tiefer ins Innere war die Öffnung zu eng.
Etwas kam auf sie zu, wurde herangetrieben von einem Windstoß, den sie nicht spürte. Es war kaum in den Lichtschein der Lampe geraten, da glitt es auch schon wieder davon.
Sie war nicht sicher, was sie gesehen hatte. Etwas Flatterndes, Dunkles, ausgebeult und leer. Eine amöbenhafte Form wie ein Einzeller unter dem Mikroskop.
Oder ein schwarzer Müllsack in der Nacht.
7
»Nun sag schon«, verlangte Lily zum zehnten Mal, als sie den Wagen erreichten. »Was hast du gesehen?«
Auf halber Strecke den Berg hinab hatte es wieder zu regnen begonnen, stärker als zuvor. Das Prasseln auf der Karosserie war so laut wie das Getöse des Flusses unter der Brücke.
Mit triefenden Jacken sprangen sie ins Auto und schlugen die Türen zu. »Da war nichts«, sagte Anais. »Nur Müll.«
Sie musste ihre Tochter nicht ansehen, um zu wissen, dass sie ihr nicht glaubte. »Was war das für ein Geräusch?«, fragte Lily.
»Wahrscheinlich irgendein Tier.« Anais pellte sich umständlich aus der Jacke und warf sie zerknüllt auf die Rückbank. Lilys flog hinterher. In ihrer Wollmütze glänzten Regentropfen wie Edelsteine, und als sie sie vom Kopf zog, stand ihr Haar nach allen Seiten ab. Hektisch strich sie mit den Händen darüber.
»Irgendwas hast du aber gesehen«, sagte Lily.
»Ich hab mich erschreckt, das ist alles.« Weil Anais wusste, dass das nicht reichte, fügte sie hinzu: »Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen.«
Lily starrte sie an. » Du hast doch ausgesehen, als hättest du Gespenster gesehen! Ich hab keinen Ton gesagt.«
Mit einem Seufzen lehnte Anais sich gegen die nasse Rückenlehne und schloss für einen Moment die Augen. Sie hätte nicht dort hinaufsteigen dürfen, schon gar nicht mit Lily. Kein Wunder, dass ihre Tochter lieber bei ihrem Exmann lebte. Und dass alle Welt das guthieß.
»Wirklich, tut mir leid«, sagte sie. »Ich hab den Geruchvon damals in der Nase gehabt und –« Sie brach ab, schüttelte über sich selbst den Kopf und versuchte, die Stimme ihres Vaters aus ihren Gedanken zu verbannen.
Leere schwarze Müllbeutel. Sie flattern da draußen in der Nacht. Flattern und wehen und flüstern.
Herrgott noch mal! Sie würde nie wieder ans Telefon gehen, wenn er anrief. Die Vorstellung, dass das Heim sich fortan mit allem an sie wenden würde, trieb sie schon jetzt in den Wahnsinn. Theodoras Tod hatte sie kaum berührt, etwas anderes zu behaupten wäre geheuchelt gewesen; aber nun wünschte sie sich, ihre Stiefmutter hätte das gesegnete Alter von hundertfünfzig erreicht.
Mit einem
Weitere Kostenlose Bücher