Klammroth: Roman (German Edition)
denen es kaum jemanden gab, der kein Todesopfer in der Verwandtschaft hatte.
Anais bemerkte, dass Lily jeden Passanten verstohlen musterte. In den Bussen hatten damals die neunten und zehnten Klassen des Gymnasiums gesessen. Die Hälfte zweier Jahrgänge war ausgelöscht, die andere fürs Leben gezeichnet worden. Viele Männer und Frauen in Anais’ Alter verbargen geschmolzenes Fleisch unter ihrer Kleidung, nicht wenige hatten entstellte Gesichter. Niemand hatte je offen ausgesprochen, dass all die Verstümmelten der Grund für den Rückgang der Touristen sein könnten, aber die stumme Anklage war spürbar gewesen. Durch die Adern dieses Ortes pulsierte ein Kreislauf aus verbitterten Schuldzuweisungen, und dies ließ ihn seit Jahren nicht zur Ruhe kommen.
Anais und Lily verließen den Stadtkern durch das Jakobustor und fuhren hinauf in die Weinberge. Rechts und links der schmalen Straße wucherten Brombeersträucher und Schlehen über abgestorbene Reben, dazwischen Brennnesseln und Disteln. Die Straße verschwand weiter oben im Wald, aber vorher bog Anais nach rechts ab. Das Haus ihrer Eltern war das letzte am Hang, ganz am Ende des Bergmühlwegs, mehr als hundert Metern von den Nachbarn entfernt.
Schon von Weitem entdeckte sie die schwarze Ruine unterhalb des Waldrands. Der Zaun des Vorgartens war von den Feuerwehrwagen eingerissen worden. Man hatte das Gelände mit Signalbändern abgesperrt, Reihen gelber Wimpel, die in den Windböen zappelten und Anais an grinsende Zahnreihen erinnerten.
»Fuck«, flüsterte Lily.
Seit Amsterdam hatte Anais sich innerlich für diesen Anblick gewappnet, trotzdem traf sie der Schock mit aller Macht. Gut dreißig Meter vor der Absperrung ließ sie den Wagen ausrollen. Der Motor lief weiter, die Wischer schabten über das Glas. Etwas in ihr weigerte sich, das letzte Stück zurückzulegen. Um ein Haar wäre sie umgekehrt.
Schließlich aber gab sie Gas und fuhr im Schritttempo bis zum Haus ihrer Eltern. Es war nicht mehr Anais’ Haus, und die Jugend, die sie hier verbracht hatte, gehörte zu einem anderen Leben. Ein paar tausend Grad im Tunnel hatten diesen Teil ihrer Vergangenheit zu Schlacke verbrannt.
Lily gab einen Laut von sich, der nach einer Mischung aus Staunen und Schrecken klang. Sie hatte dieses Haus kaum gekannt, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte noch nie vor etwas gestanden, das mit solcher Gewalt zerstört worden war.
Die meisten Mauern standen noch, schwarz und ausgeglüht, doch es gab kein Dach mehr, keine Fenster und keine einzige Tür. Wasser und Löschschaum hatten sich mit der Asche zu einem zähen Schlamm vermengt, der wie ein Erdrutsch aus den Öffnungen der Ruine gequollen war. Ein Teil der Vorderwand war eingestürzt, vermutlich hatten die Träger der Garage im Erdgeschoss nachgegeben. Eine Schutthalde türmte sich am Ende der Einfahrt auf, aus der die Überreste zerstörter Möbel ragten. Darauf verstreut lag etwas Helles, Teile eines Porzellanservice, auf den ersten Blick unversehrt, als wäre es behutsam auf den Trümmern drapiert worden. Selbst durch die geschlossenen Wagentüren und den Regen war der Geruch von verbranntem Kunststoff kaum zu ertragen.
»Steigen wir aus?«, fragte Lily.
»Bleib ruhig im Wagen, wenn du willst.«
Lily warf ihr einen prüfenden Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf.
Im strömenden Regen umrundeten sie die Ruine von der höher gelegenen Straßenfront bis zum abschüssigen Hangan der Rückseite. Die breiten Wohnzimmerfenster, die einst die Weinberge und den Fluss überschaut hatten, waren leere schwarze Höhlen.
»Ich geh mal rein«, sagte Anais. »Warte hier.«
»Ich will mit.«
»Lieber nicht.«
Nach kurzer Diskussion stieg sie allein die Außentreppe zur Terrasse hinauf. Der schwarze Schlamm machte die Stufen so glatt wie Schmierseife.
Fast zehn Minuten lang wanderte sie durch die Ruine. Schließlich wagte sie sich ins Obergeschoss und in ihr ehemaliges Kinderzimmer. Alles war voller Fußabdrücke; erst hatte die Feuerwehr das Haus durchsucht, dann die Spurensicherung.
Theodora war im Schlafzimmer gefunden worden – was auch immer sie dort getrieben hatte. Der Polizist, mit dem Anais telefoniert hatte – ein Kommissar Herzog – hatte gesagt, man müsse in Erwägung ziehen, dass Theodora bereits tot gewesen sei, als das Feuer ausbrach. Einiges spräche für Brandstiftung.
Er hatte Anais’ Angaben überprüft: Amsterdam, das Rotlichtviertel, die Vorbereitungen zu ihrer Performance. Es gab
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