Klammroth: Roman (German Edition)
finanziell ausgenutzt – das hatte sie von Beginn an nicht nötig gehabt –, und bis zuletzt hatte sie alle Rechnungen beglichen, die für seine Behandlungen angefallen waren. Die beiden waren getrennt gewesen, aber keiner hatte je die Scheidung eingereicht. Wem immer Anais davon erzählte, kam über kurz oder lang mit dem Einwand, dass Theodora Anais’ Vater auf ihre Weise wohl doch geliebt, zumindest aber gemocht hatte. Anais hasste das, weil sie es so viel besser wusste.
Im Rückblick betrachtet hatten Theodora und sie nie eine Chance gehabt. Heute war sie heilfroh darüber. Sonst hätte es sie womöglich ebenso schlimm getroffen wie ihren Vater, als Theodora eines Tages verkündet hatte, sie werde ihn verlassen und in eine Wohnung im Dachgeschoss des Instituts ziehen. Die Hexe war in den Wald zurückgekehrt, aus dem sie gekommen war.
Anais ging mit Lily einen langen Gang mit gotischer Gewölbedecke hinunter. »Als du ihn zuletzt gesehen hast, war er noch gesund, oder?«
»Keine Ahnung«, sagte Lily. »Ich war zu beschäftigt damit, ihm aus dem Weg zu gehen.«
Sie musste damals vier oder fünf gewesen sein und hatte sich während des Besuchs die meiste Zeit hinter Phil versteckt. Später hatte sie ihren Eltern erzählt, dass sie sich vor ihrem Großvater gefürchtet hatte. Vor seinem Lächeln, hatte sie gesagt.
»Du hattest wirklich Angst vor ihm.«
Lily schob die Hand unter ihr langes Haar, hob es aus dem Kragen und warf es sich über den Rücken. Sie hatte die nasse Mütze wieder aufgesetzt. »Ich fand ihn seltsam. Er hat mich so gruselig angesehen.«
Zwei Pfleger in Weiß schoben ihnen eine alte Frau in einem stählernen Bett entgegen. Der eine kam Anais bekannt vor, aber ehe sie ein zweites Mal hinsehen konnte, war er schon an ihnen vorbei. Die Frau im Bett machte gurrende Laute wie eine Taube.
Das Zimmer ihres Vaters befand sich im Erdgeschoss. Es lag an der Rückseite mit Blick auf den Park und war nicht groß, beinahe höher als breit. Die Jugendstil-Verstrebungen des Fensters bildeten ein florales Muster, das eher Gebeinen als Gewächsen ähnelte.
Ihr Vater saß apathisch in seinem Sessel am Fenster. Möbel und Vorhänge waren von einem Uringeruch durchdrungen, der vielleicht von ihm ausging, womöglich aber auch schon länger im Zimmer festsaß. Der Sessel stand mit der Rückseite zur Tür, damit der Mann darin aus dem Fenster blicken konnte. Beim Eintreten sah Anais nur seine Hand auf der linken Lehne.
Sie blickte zu Lily hinüber, die ihre blutleeren Lippen fest aufeinanderpresste. Anais ergriff ihre Finger und versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln, aber über Lilys Augen lag ein Schatten derselben irrationalen Furcht, die sie schon damals heimgesucht hatte.
»Willst du lieber gehen?«, flüsterte sie und fragte sich zugleich, warum sie leise sprach. Selbst wenn ihr Vater sie hören konnte, würde er wie bei jedem ihrer Besuche vorgeben, ihre Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Falls die Demenz wirklich so weit fortgeschritten war, wie sein Arzt behauptete, spielte es ohnehin keine Rolle mehr.
Lily schüttelte den Kopf.
Anais bemerkte, dass das Kreuz über dem Bett verschwunden war. Es hatte ihrer Mutter gehört. Sie war gestorben, als Anais sieben gewesen war.
Sie trat um den Sessel herum. »Hallo, Papa.«
Auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett stand ein Telefon mit geringelter Schnur. Von dort aus rief er sie in den Nächten an, früher alle paar Monate, zuletzt sehr viel öfter, und dann redete er ohne zuzuhören. Reagierte nie auf das, was sie sagte, sondern sprach zu ihr wie ein Wahnsinniger mit seinem Spiegelbild.
Er saß mit geradem Rücken im Sessel und schaute ernst an ihr vorbei aus dem Fenster. Körperlich wirkte er wie jemand, der jeden Moment aufstehen und einen Spaziergang durch den Garten machen würde. Doch seine Augen bewegten sich nicht, und seine Lippen blieben geschlossen. Anais fragte sich, was er dort draußen im Dunkeln gesehen hatte.
Lily gab sich einen merklichen Ruck und trat neben sie. »Hallo, Opa.«
Er antwortete nicht. Blickte stur durch sie hindurch, alssähe er auch jetzt noch etwas hinter dem Regen, das ihn von Kopf bis Fuß lähmte.
»Wir kommen gerade aus Amsterdam«, sagte Anais. Dann redete sie einfach drauflos, darüber, dass es furchtbar sei, was mit Theodora geschehen war – Heuchlerin! –, und dass Lily und sie oben am Haus gewesen waren. Doch schon nach drei Minuten ging ihr der Small Talk aus, und sie ärgerte sich
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