Klammroth: Roman (German Edition)
ein ganzes Team von Mitarbeitern, das bezeugen konnte, wo sie sich wann aufgehalten hatte. Wasserdichter konnte ein Alibi nicht sein.
Er hatte sie gefragt, ob ihr jemand einfiele, der einen Grund gehabt haben könnte, ihre Stiefmutter zu hassen. So sehr zu hassen, dass ein Mord infrage käme.
Anais hatte selbstverständlich verneint.
Und selbstverständlich gelogen.
8
Vor dem Badezimmerspiegel der Pension zog sie sich die schwarze Perücke vom Kopf.
Ihre Kopfhaut war dicht vernarbt. Bis in den Nacken hinunter war ihr Schädel von einem Geflecht aus rosa Verwachsungen bedeckt. Die Verbrennungen reichten dolchförmig hinten am Hals hinunter und liefen zwischen den Schulterblättern als dunkle Rötung aus. Deshalb ließ Anais sich bei ihren Performance-Aktionen zwar nackt, aber nur von vorn fotografieren; gelegentlich trug sie dabei auch lange Haare, um die Brandmale zu verbergen.
Insgesamt hatte sie Glück gehabt: Der Rest ihres Körpers, vor allem ihr Gesicht, war unversehrt. Ihr Haar hatte gebrannt, als sie den Tunnel verlassen hatte. Ein Autofahrer, der ihr auf der Straße entgegengekommen war, hatte die Flammen mit seiner Jacke erstickt und schlimmere Verletzungen verhindert. Er hatte sie ins nächste Krankenhaus gebracht, während ihnen die Ambulanzen von dort entgegenkamen, eine lange Reihe aus Blaulicht und heulenden Sirenen. Erst auf halber Strecke hatte Anais zu schreien begonnen und dann nicht mehr damit aufgehört, bis man sie in der Klinik anästhesiert hatte.
Nachdem sie wieder erwacht war, hatte sie sich an nichts mehr erinnern können. Der Tag des Unglücks war wie ausradiert, und selbst die Woche davor war ihr damals wie ein wirrer Traum erschienen. Noch siebzehn Jahre später hatte sie das Gefühl, dass das Feuer ein schwarzes Loch in ihre Erinnerung gebrannt hatte, mit Rändern so vernarbt wie ihre Kopfhaut.
Während sie Schädel und Nacken mit Salbe bestrich, klopfte es an der Badezimmertür.
»Komm rein.«
Lily trat ein, ohne auf die Narben zu achten. Sie stellte ihren Kulturbeutel auf den Spülkasten der Toilette, dann nahm sie die Perücke vom Beckenrand und betrachtete sie. »Glaubst du, mir würden kurze Haare stehen?«
»Zumindest würden sie dir die Mützenfrisur ersparen.«
Lily warf im Spiegel einen missmutigen Blick auf ihr zerstrubbeltes Haar und nickte. Sie war fast einen Kopf kleiner als Anais, aber sie war jetzt in dem Alter, in dem sie bald in die Höhe schießen mochte. So war es bei Anais gewesen, und Phil war immerhin einsneunzig.
Es war schon nach fünf, als sie sich geduscht und in frischer Kleidung auf den Weg zum Heim machten. Die Sachen, die sie oben am Haus angehabt hatten, stanken erbärmlich nach Asche. Anais trug Jeans und einen engen Rollkragenpullover, darüber ihre Lederjacke, alles so schwarz wie ihr Haar und das Make-up, das ihre großen Augen betonte – und ihre Blässe, wie Lily kritisch anmerkte.
Die lange Jacke ihrer Tochter hatte Phil auf dem Markt in Camden gekauft. Mit ihren Fransen und Applikationen sah sie aus, als hätte sie schon die Glanzzeit der Carnaby Street und das Ende der Swinging Sixties miterlebt. Die Kombination aus Jacke und Wollmütze machte Lily älter als vierzehn, sie sah aus wie eines dieser Hippiemädchen auf Fotos aus Münchener Kommunen.
Das Pflegeheim, in dem Anais’ Vater lebte, setzte sich aus mehreren Villen zusammen, alle errichtet im neunzehnten Jahrhundert. Sie lagen in einer Reihe an der alten Straße, die sich am Ufer entlang aus dem Ort heraus nach Osten schlängelte. Hier hatten einst die reichen Winzerfamilien gelebt.Nach dem Abstieg Klammroths vom beliebten Ausflugsziel zur Geisterstadt waren die Bauten von Investoren aufgekauft, renoviert und durch moderne Glaskonstruktionen miteinander verbunden worden. Es gab hässlichere Heime für alte Menschen, und trotzdem schnürte sich Anais schon beim Anblick der neogotischen Häuserfronten die Kehle zu.
Ihr Vater war Direktor des Sankt-Benedikt-Gymnasiums und Klammroths ehrenamtlicher Bürgermeister gewesen, schon viele Jahre vor dem Unglück im Tunnel und noch eine Weile danach. Seine Demenz hatte eingesetzt, nachdem Theodora ihn nach neun Jahren verlassen hatte. Sie hatte von ihm bekommen, was sie sich erhofft hatte: alle Genehmigungen, die nötig waren, um in einer ehemaligen Fruchtsaftfabrik auf der anderen Seite des Berges ihr Avila-Institut zu gründen, eine Schmerzklinik, spezialisiert auf Verbrennungsopfer.
Theodora hatte Jakob Schwarz niemals
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