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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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wieder, dass er vorgab, sie nicht zu hören und zu sehen, und mehr noch darüber, dass er dasselbe seiner einzigen Enkelin antat. Er hatte Lily seit so vielen Jahren nicht gesehen, für ihn musste der Teenager vor seinem stinkenden Sessel ein ganz neuer Mensch sein und, verdammt noch mal, eine wunderschöne Überraschung. Und er sagte nichts . Sie hoffte von Herzen, er möge an seiner Sprachlosigkeit ersticken oder sich nachts bei einem Anfall seiner Scheißangst die Augen auskratzen.
    »Komm«, sagte sie schließlich zu Lily. »Gehen wir.«
    Aber Lily blieb stehen. »Und wenn es stimmt? Wenn er wirklich nicht sprechen kann?«
    »Er ruft mich an, mitten in der Nacht!«
    Lily atmete tief ein, ohne dass der beißende Altmännergeruch ihr etwas auszumachen schien. »Haben die   … ich meine, hast du sie mal sein Telefon überprüfen lassen?«
    »Glaubst du, ich erkenne die Stimme meines eigenen Vaters nicht?«
    Lily wich ihrem Blick aus und schüttelte den Kopf.
    Hinter ihr krachte etwas Dunkles gegen die Fensterscheibe. Es war fort, ehe Anais erkennen konnte, was es gewesen war. Aber dann sah sie die einzelne schwarze Feder, die inmitten der Regenschlieren am Glas klebte.
    Ihr Vater hatte bei dem Aufschlag nicht mal gezuckt.
    Sie verstand, worauf Lily hinauswollte. Als wäre sie nichtschon selbst auf diese Idee gekommen. Trotzdem wurde sie wütend. »Du glaubst, ich bilde mir das nur ein? Die Anrufe, sein Gerede   …«
    »Schon gut.« Lily konnte sie noch immer nicht ansehen. Aber warum blickte sie dann in sein Gesicht, geradewegs in seine Augen? »Tut mir leid.«
    Anais ergriff ihre Hand und zog sie von dem Alten fort, als wäre er es, der sie mit solchen Gedanken infizierte. Gedanken, von denen er wollte, dass Lily sie dachte. Er hatte das früher auch mit ihr gemacht, einzig durch seine Autorität.
    »Wir verschwinden von hier«, sagte sie.
    Lily nickte langsam. »Auf Wiedersehen«, sagte sie zu ihrem Großvater.
    »Nein«, widersprach Anais. »Besser nicht.«
    Dann führte sie ihre Tochter aus dem Raum, während die Feder am Glas allmählich abwärts glitt.

9
    »Anais?«
    Sie wollte gerade mit Lily aus dem gotischen Korridor hinaus in das Glasfoyer zwischen den Villen treten, als sie die Stimme in ihrem Rücken hörte. Sie übertönte das Prasseln auf den riesigen Scheiben.
    Zwei Dinge geschahen gleichzeitig, noch bevor sie sich umdrehte: Sie wusste wieder, an wen sie der Pfleger bei ihrer Ankunft erinnert hatte. Und sie wünschte sich auf der Stelle sehr weit fort von hier.
    Aber Lily war bereits stehen geblieben und sah zurück zu dem Mann, der ihnen mit hastigen Schritten nacheilte.
    »Erik.« Anais bemühte sich um ein Lächeln. »Wie geht’s dir?« Zwanzig Jahre waren vergangen, aber die alte Abneigung war sofort wieder da. Erik Rauter. Sie schämte sich dafür, dass sie ihn auf den ersten Blick genauso verabscheute wie damals. Manche Dinge ließen sich einfach nicht abschütteln.
    »Hallo, Anais. Ich hab schon gehört, dass du da bist.«
    So schnell ging das? Liebe Güte.
    Er hatte sich verändert, war bulliger geworden. Fitnessstudio, fünfmal die Woche, wahrscheinlich. Im ersten Moment dachte sie, er trüge noch dieselbe Hornbrille, für die man ihn schon damals verspottet hatte. Sein braunes Haar war kurz rasiert, was die fliehende Stirn und den flachen Hinterkopf ungünstig betonte. Damals, als ihn ganze Horden von Kindern über den Schulhof gejagt und in den Müllcontainer gesteckt hatten, hatte er längere Haare gehabt, keine Frisur im eigentlichen Sinne. Wahrscheinlich selbstgeschnitten. Eriks Vater war Schulbusfahrer gewesen. Einer der vier im Tunnel.
    »Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest«, sagte sie.
    Er lächelte und schien sich über das Wiedersehen zu freuen. »Ich war früher in Haus vier. Vor einem Jahr haben sie mich hier in die Zwei versetzt. Ich bin für deinen Vater zuständig.« Er lächelte nervös. »Wenn ich also irgendwas tun kann   …«
    Lily stupste sie an. Eine Aufforderung: Nun mach schon, frag ihn.
    Aber es widerstrebte Anais, mit Erik zu sprechen, geschweige denn, ihn um etwas zu bitten. Sie wusste genau, warum sie ihn nicht gemocht hatte. Und da war diese eine Sache gewesen. Im Rückblick war sie heute noch so scheußlich wie damals. Nur hatte sie als Teenager ihre eigene Rolle dabei verdrängt.
    »Sein Zustand ist unverändert, oder?«
    Erik nickte. Seine Schultern waren fast überproportional, seine Unterarme so breit wie Anais’ Oberschenkel.
    Sie gab sich

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