Klammroth: Roman (German Edition)
Rückwärtsgang und fuhr mit offener Tür neben ihr her. Innerhalb von Sekunden war die Innenverkleidung klatschnass.
»Nun komm schon«, sagte er, »ich will mich entschuldigen.«
Sie schüttelte den Kopf, ging schneller und ignorierte ihn.
»Anais, bitte! Was war da im Tunnel?« Er fuhr noch immer rückwärts. Wenn er nicht aufpasste, würde er im Fluss landen. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er.
»Ich hab diesem Kommissar davon erzählt.« Das stimmte nicht, aber sie hoffte, dass sie ihn damit loswürde.
»Bitte, steig ein«, sagte er. »Du holst dir den Tod da draußen.«
»Das hat dich gestern Abend nicht gekümmert.«
»Ich hab morgens in der Pension angerufen. Sie sagten, du wärst da gewesen, aber schon wieder weg. Da wusste ich, dass es dir gut geht.«
»Sehe ich aus, als ob’s mir gut geht?« Ihre Stimme drohte wieder überzukippen. »Meine Tochter ist verschwunden! Sehe ich aus, als ob mich irgendwas anderes interessieren könnte?«
»Darum sollst du ja einsteigen.«
Sie erinnerte sich an etwas, das sie noch immer bei sich trug, und blieb stehen. Ihre Finger zitterten, als sie in ihren Taschen danach suchte.
»Hier«, sagte sie schließlich und schleuderte ihm die Schlüsselkarten aus der Klinik in die offene Wagentür. Der Stapel flog auseinander und verteilte sich über die Armaturen und seinen Schoß. »Die wolltest du doch haben. Mach damit, was du willst.«
Er nahm eine in die Hand, sah sie an, als wüsste er nichts damit anzufangen, und ließ sie zwischen seine Knie fallen.
»Anais, ich muss mit dir reden.«
Sie ging weiter. Wieder ließ er den Wagen rückwärts neben ihr her rollen.
»Es ist wichtig!«, rief er beharrlich.
»Du hast bekommen, was du wolltest. Jetzt verzieh dich.«
»Es ist wegen Nele.«
Das traf sie heftiger, als sie wahrhaben wollte. Aber bei allem Mitleid für seine Schwester hatte sie selbst jemanden, um den sie sich kümmern musste. Sie verschwendete mit ihm nur ihre Zeit.
A nais , drang ein Wispern aus dem Wald zu ihrer Linken. Vielleicht nur der Regen auf den Blättern.
Hinter ihr zog Sebastian die Beifahrertür zu, wendete in aufstiebenden Wasserfächern und holte sie wieder ein. Unmittelbar neben ihr ließ er das Fenster auf der Fahrerseite herunter.
»Nele hat aufgehört zu schreien«, rief er, um das Getöse zu übertönen. »Zum ersten Mal seit Jahren. Sie weint auch nicht mehr.«
Sie wurde etwas langsamer. »Ich muss meine Tochter finden.«
Er gab Gas, stellte den Wagen schräg und schnitt ihr den Weg ab.
Anais fluchte, lief aber nicht mehr vor ihm davon.
Er stieg aus und war innerhalb eines Augenblicks so durchnässt wie sie. Aber er kam ihr nicht zu nahe, so, als wollte er nur ja keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte.
»Nele spricht«, rief er. »Verstehst du? Sie redet ! Obwohl sie das eigentlich seit siebzehn Jahren nicht mehr kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mein Problem, okay? Ich freu mich für sie, aber ich hab gerade eine Menge anderen Scheiß um die Ohren.«
»Sie ruft dich, Anais. Immer wieder deinen Namen!«
Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. »Das erfindest du.«
»Ich sag die Wahrheit. Ich schwör’s dir. Und sie wusste, dass ich dich hier finden würde. Sie … sie wusste das … irgendwoher.« Jetzt klang er ernsthaft verstört. Nicht verbissen wie am Abend im Wald, sondern nur noch verwirrt.
Sie musste das nicht verstehen. Und es ging sie nichts mehr an. Für sie gab nur noch einen Menschen, der zählte.
»Sie ruft nach dir«, sagte er, während der Regen ihm ins Gesicht schlug. »Immer wieder nur nach dir.«
»Ich hab dafür jetzt keine Zeit.«
»Vergiss mich. Aber tu’s für Nele.« Er hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: »Wenn sie wusste, wo du bist, dann weiß sie vielleicht auch –«
»Wo Lily ist?« Sie wäre am liebsten mit den Fäusten auf ihn losgegangen. »Das ist so billig, Sebastian!«
»Hast du eine bessere Idee, wie du sie finden kannst?«
Sie fluchte lautstark, dann deutete sie auf die offene Tür. Der Fahrersitz musste sich vollgesogen haben wie ein Schwamm.
»Okay.« Sie trat auf ihn zu, bis nur noch eine Armlänge zwischen ihnen lag. »Aber ich fahre.«
»Was –«
»Ich setze mich ganz bestimmt in kein Auto, das du steuerst. Nicht nach gestern Abend!«
Ein Laut wie von berstenden Baumstämmen drang den Berg herab. Vielleicht ein Erdrutsch, bei all dem Wasser. Sebastian blickte hinauf, als erwartete er von
Weitere Kostenlose Bücher