Klammroth: Roman (German Edition)
einladend, andere gierig und voller Zorn.
Sie ist nicht hier.
War das Einbildung? Wunschdenken? Oder eine Stimme aus ihrer Vergangenheit? Womöglich die Stimme von Christina oder von etwas, das klingen wollte wie sie. Anais’ Gewissen.
Vielleicht war Lily wirklich nicht hier oben im Wald. War niemals ohne sie am Tunnel gewesen. Die Feuerstelle war ein zerlaufener Hügel aus Asche, spiegelglatt wie das nasse Herbstlaub ringsum. Niemand hatte heute hier ein Lagerfeuer gemacht, wahrscheinlich schon seit Wochen nicht mehr. Sie wusste nicht, warum Lily das behauptet hatte, wusste kaum noch irgendwas mit Gewissheit, und der Zweifel nagte an ihr wie die Furcht vor dem, was er zutage bringen mochte.
Sie taumelte rückwärts bis zur Kante des Asphalts. Der Trampelpfad durch Brennnesseln und Disteln war jetzt genau hinter ihr, sie musste sich nur umdrehen und loslaufen, um den flatternden Formen zu entkommen.
Der Lockruf raschelte wie brüchiges Papier in ihrenOhren, keine klaren Worte, nicht mal ihr Name, aber sie verstand den Ruf dennoch, weil er nur ihr galt. Das Verlangen, einfach aufzugeben und ihm zu folgen, war überwältigend, doch nicht so stark wie ihre Sorge um Lily – wie ihr Wunsch, sie wiederzusehen und an sich zu ziehen und ihr zu sagen, was sie ihr bedeutete, ganz gleich, wie nah oder weit weg sie auch war, und dass es wichtig war, dass Lily das niemals vergaß und wusste, dass sie sich auf ihre Mutter verlassen konnte.
Sie warf sich herum und rannte wieder. Durch das Nesselgebüsch und den Morast, über Herbstlaub und Teppiche aus Nadeln, dann nach rechts unter die Bäume, nahm aber nicht den Weg zum Friedhof, weil sie fürchtete, dass Herzog sie suchte und aus dieser Richtung kommen könnte. Stattdessen folgte sie dem Verlauf der früheren Straße in engen Kurven den Hang hinab, jener überwucherten Schneise, die sie am ersten Tag mit Lily heraufgestiegen war.
Aber das alles dauerte viel zu lange. Nach der Hälfte der Strecke ignorierte sie die Serpentinen und lief geradeaus durchs Dickicht, bog Zweige beiseite und schlüpfte unter Ästen hindurch, von einer ehemaligen Straßenstufe zur nächsten. Den Waldrand erkannte sie in der Dunkelheit erst, als sie ihn hinter sich ließ und hinaus auf die Landstraße stolperte, eine Kette aus Pfützen auf dem Asphalt, die von der Brücke Richtung Klammroth führte.
Anais war schmutzig und triefte vor Nässe. Sie musste aussehen wie etwas, das aus dem Fluss ans Ufer gekrochen war, ein Ding aus dem Strom, vom Hochwasser aus den Bergen gespült und als Treibgut an Land geworfen.
Nach Luft schnappend blieb sie stehen, beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und verharrte für einen Augenblick. Als sie aufblickte, erkannte sie im Dunkeln vagedie Brücke; sie schien wie ein Floß auf dem Fluss zu liegen, der nun viel breiter war als bei Anais’ Ankunft und die mächtigen Betonsockel verschlungen hatte. Das Hochwasser hatte den Rand der Straße erreicht und schwappte über die Befestigung. Die Pfützen stammten nicht allein vom Regen. Die Fahrbahn versank allmählich im Strom.
Klammroth lag zwei Kilometer flussabwärts hinter der nächsten Biegung. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie es vielleicht, ehe die Landstraße überflutet wurde.
Als sie sich in Bewegung setzte, tauchten hinter der Kurve Scheinwerfer auf. Ein Wagen pflügte durch die Nässe auf dem Asphalt, zu beiden Seiten sprühten Fontänen empor. Das Lichterpaar kam näher und blendete sie.
Herzog, durchfuhr es sie.
Während sie noch daran dachte, zurück ins Unterholz zu laufen, ganz gleich, ob er sie bereits gesehen hatte oder nicht, erkannte sie, dass sie sich getäuscht hatte.
Es war nicht der Wagen des Kommissars.
Es war ein Taxi.
39
Der Mercedes hielt neben ihr an. Von innen stieß Sebastian die Beifahrertür auf.
»Steig ein«, rief er, um das Lärmen des Flusses zu übertönen.
Sie blieb vor der Tür stehen, voller Misstrauen. »Hast du Lily gesehen?«
»Deine Tochter? Was ist mit ihr?«
»Sie war mit irgendwem aus dem Ort unterwegs und ist nicht zurück in die Pension gekommen.« Sie wollte ihn anschreien, schütteln, bis er ihr verriet, wo Lily steckte.
Falls er es weiß. Und wenn nicht?
Sebastian schüttelte den Kopf. »Wo wollte sie denn hin?«
Sie sah ihn wieder vor sich, wie er sie durch den Wald verfolgt hatte, und begriff zugleich, dass er keine Hilfe sein würde.
»Ach, verpiss dich«, sagte sie nur und ging weiter.
Er schaltete fluchend in den
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