Klassentreffen
VERZWEIFELTE ELTERN SUCHEN VERMISSTE TOCHTER
Ich gehe die Artikel systematisch durch. Die meisten sind viele Jahre alt, aber aus allen spricht Panik und Verzweiflung – das macht mich betroffen. Ich sehe lachende Mädchen auf den Fotos, altmodische Frisuren und Gesichter voller jugendlicher Unbeschwertheit.
Seit 1980 wurden gut zehn Mädchen vermisst, davon drei aus Den Helder und Umgebung. Vier Mädchen wurden nicht wieder gefunden, die anderen sind ermordet worden. Vergewaltigt und erwürgt. Nur von einem Mädchen hat man den Mörder gefunden: Sjaak van Vliet hat im Sommer 1997 die damals sechzehnjährige Rosalie Moosdijk in den Dünen bei Callantsoog vergewaltigt und erwürgt. Man hat ihn nach einem halben Jahr intensiver Fahndung verhaftet,
und er hat den Mord gestanden. Ja, das weiß ich, aber woher? Vor kurzem habe ich was darüber gelesen. Ich grüble, und es fällt mir tatsächlich wieder ein: Im Internet stand was über diesen Sjaak van Vliet, auf der Website von vermisst.nl .
Ich blättere weiter und weiß, was ich zu erwarten habe, trotzdem erschrecke ich, als ich Isabels Gesicht schwarzweiß vor mir sehe. Eine Zeit lang betrachte ich ihr Foto, dann suche ich noch mal nach dem Artikel über Rosalie: Sie verschwand im Sommer 1997 und war auf der gleichen Schule wie wir. Ob es da einen Zusammenhang gibt? Die Polizei vermutete wohl einen, das bezeugen die Artikel über Sjaak van Vliet. Aber wahrscheinlich hatte man nicht genug Beweise für eine Anklage.
Ich zucke zusammen, als der junge Mann plötzlich hinter mir vorbeigeht.
»Darf ich Sie was fragen? Könnte ich wohl Kopien von diesen Artikeln bekommen?«
»Von allen?«
»Ja bitte.«
Er weist mit dem Kinn zum Kopierer in der Ecke. »Zehn Cent pro Kopie.«
Ich nehme den Ordner und mache mich an die Arbeit. Zu Hause werde ich dann alles in Ruhe durchlesen. Es könnte doch gut sein, dass mehrere Mädchen von ein und demselben Täter überfallen wurden. Vielleicht finden sich ja Übereinstimmungen bei den Fällen. Ich sehe die Kopien ins Sortierfach rutschen.
POLIZEI RUFT BEVÖLKERUNG ZU »SUCHAKTION NINA« AUF VERSCHWUNDENE ISABEL STELLT POLIZEI VOR RÄTSEL FAHNDUNG IM FALL LISET STAGNIERT
Während der Kopierer läuft, lese ich einige Artikel durch. Auffällig ist, dass drei der verschwundenen Mädchen am gleichen Gymnasium waren wie ich: Nina, Lydia und Isabel. Die anderen kamen nicht aus Den Helder, allerdings aus dem nördlichen Teil der Provinz Noord-Holland. Das deutet auf einen Täter hin, der in dieser Gegend wohnt.
Ich stecke die Kopien ein. Als ich das Gebäude verlasse, habe ich das Gefühl, sie brennen durchs Leder, wollen mir mit fetten Lettern die Antwort zurufen.
KAPITEL 22
Ich habe Den Helder gerade hinter mir gelassen, als mir schlagartig alles klar wird. Ich will reflexartig eine Vollbremsung hinlegen, kann mich aber gerade noch beherrschen. Im Rückspiegel sehe ich, dass niemand hinter mir ist. Gegenverkehr gibt es auch nicht, also kann ich es wagen.
Ich gehe vom Gas, reiße das Steuer herum und wende. Die Reifen rollen kurz übers Bankett, aber dann bin ich auf der richtigen Fahrspur: zurück nach Den Helder.
Ich stelle das plärrende Radio aus, damit ich meine Gedanken ordnen kann. Gedanken, die sich überschlagen und mein Blut in Wallung bringen. Mein Gott, ich war bei ihm zu Hause! Habe ihm Fragen über Isabel gestellt, und nicht nur das, ich habe auch noch eine ganze Weile über früher gequatscht. Und er hat mich einfach gehen lassen! Hat er es denn wirklich vergessen? War das meine Rettung?
Mir bricht der Schweiß aus. Das ist eine Sache, die ich nicht allein klären kann: Ich muss zur Polizei. So sehr mir das auch gegen den Strich geht, ich muss es melden. Aber erst muss ich noch etwas herausfinden.
Wieder stelle ich das Auto außer Sichtweite an der Stra ßenecke ab und gehe dann den Bürgersteig entlang bis zur Nummer sieben. Die Nachbarin von Herrn Groesbeek macht mir auf – eine ältere Dame mit gepflegtem grauem Haar und einem lieben Omagesicht. Bestimmt hat sie Enkelkinder, die sie nach Strich und Faden verwöhnt, denke ich. Und wenn nicht, dann wünscht sie sich welche.
»Ja bitte?«, sagt die alte Dame.
Ich werfe einen Blick auf das Namensschild an der Tür. »Sind Sie Frau Takens?«
»Ja?«
Ich lache leicht verlegen. »Ich war vorhin bei Ihrem Nachbarn, Herrn Groesbeek. Er war früher Hausmeister an meiner Schule, und jetzt stelle ich gerade für unser Klassentreffen ein Büchlein mit Anekdoten von
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