Kleider machen Leute
Nettchen ihrerseits mit seltsamem Tone, in glei-
cher Weise etwas blaß geworden, „was sehen Sie mich so an?“
Wenzel aber streckte den Arm aus, zeigte mit dem Finger
auf sie, wie wenn er einen Geist sähe, und rief:
„Dieses habe ich auch schon erblickt. Wenn jenes Kind zor-
nig war, so hoben sich ganz so, wie jetzt bei Ihnen, die schönen
Haare um Stirne und Schläfe ein wenig aufwärts, daß man sie
sich bewegen sah, und so war es auch zuletzt auf dem Felde in
jenem Abendglanze.“
In der Tat hatten sich die zunächst den Schläfen und über
der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt wie von
einem ins Gesicht wehenden Lufthauche.
Die allezeit etwas kokette Mutter Natur hatte hier eines
ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel
zu Ende zu führen.
Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zu heben
begann, stand Nettchen auf, ging um den Tisch herum dem
Manne entgegen und fiel ihm um den Hals mit den Worten:
„Ich will dich nicht verlassen! Du bist mein, und ich will mit
dir gehen trotz aller Welt!“
So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief ent-
schlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schick-
sal auf sich nahm und Treue hielt.
Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksal nicht
selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehr faßte sie rasch und
keck neue Entschlüsse. Denn sie sagte zu dem guten Wenzel,
der in dem abermaligen Glückeswechsel verloren träumte:
„Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den Dor-
tigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, daß sie uns erst
recht vereinigt und glücklich gemacht haben!“
Dem wackern Wenzel wollte das nicht einleuchten. Er
wünschte vielmehr, in unbekannte Weiten zu ziehen und ge-
heimnisvoll romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie
er sagte.
Allein Nettchen rief: „Keine Romane mehr! Wie du bist,
ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und
in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum
Trotze dein Weib sein! Wir wollen nach Seldwyla gehen und
dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns ver-
höhnt haben, von uns abhängig machen!“
Und wie gesagt, so getan! Nachdem die Bäuerin herbei-
gerufen und von Wenzel, der anfing, seine neue Stellung ein-
zunehmen, beschenkt worden war, fuhren sie ihres Weges
weiter. Wenzel führte jetzt die Zügel, Nettchen lehnte sich so
zufrieden an ihn, als ob er eine Kirchensäule wäre. Denn des
Menschen Wille ist sein Himmelreich, und Nettchen war just
vor drei Tagen volljährig geworden und konnte dem ihrigen
folgen.
In Seldwyla hielten sie vor dem Gasthause zum Regenbo-
gen, wo noch eine Zahl jener Schlittenfahrer beim Glase saß.
Als das Paar im Wirtssaale erschien, lief wie ein Feuer die
Rede herum: „Ha, da haben wir eine Entführung! wir haben
eine köstliche Geschichte eingeleitet!“
Doch ging Wenzel ohne Umsehen hindurch mit seiner
Braut, und nachdem sie in ihren Gemächern verschwunden
war, begab er sich in den Wilden Mann, ein anderes gutes
Gasthaus, und schritt stolz durch die dort ebenfalls noch hau-
senden Seldwyler hindurch in ein Zimmer, das er begehrte,
und überließ sie ihren erstaunten Beratungen, über welchen sie
sich das grimmigste Kopfweh anzutrinken genötigt waren.
Auch in der Stadt Goldach lief um die gleiche Zeit schon
das Wort „Entführung!“ herum. In aller Frühe schon fuhr
auch der Teich Bethesda nach Seldwyla, von dem aufgeregten
Böhni und Nettchens betroffenem Vater bestiegen. Fast wären
sie in ihrer Eile ohne Anhalt durch Seldwyla gefahren, als sie
noch rechtzeitig den Schlitten Fortuna wohlbehalten vor dem
Gasthause stehen sahen und zu ihrem Troste vermuteten, daß
wenigstens die schönen Pferde auch nicht weit sein würden.
Sie ließen daher ausspannen, als sich die Vermutung bestä-
tigte und sie die Ankunft und den Aufenthalt Nettchens ver-
nahmen, und gingen gleichfalls in den Regenbogen hinein.
Es dauerte jedoch eine kleine Weile, bis Nettchen den Vater
bitten ließ, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen und dort allein
mit ihr zu sprechen. Auch sagte man, sie habe bereits den be-
sten Rechtsanwalt der Stadt rufen lassen, welcher im Laufe des
Vormittags erscheinen werde. Der Amtsrat ging etwas schwe-
ren Herzens zu seiner Tochter hinauf, überlegend, auf welche
Weise er das desperate Kind am besten aus der Verirrung zu-
rückführe, und war auf ein verzweifeltes Gebaren gefaßt.
Allein mit Ruhe und
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