Kleine Luegen erhalten die Liebe
Klischee!
Eduardo nickte feierlich. »Okay«, sagte er, »wenn es das ist, was du willst.« Keine Diskussion, bemerkte sie, nur ein: »Aber dir ist doch klar, dass du nachts nicht allein durch die Straßen laufen solltest, Liebling?« Das war alles, und sie wusste auch, warum. Denn als sie ihn gehen und in seine Manteltasche greifen sah, begriff sie, dass er es kaum erwarten konnte, seine Freunde anzurufen, herauszufinden, wo sie waren, und sich dann mit ihnen bis zum Sonnenaufgang zu betrinken.
Ach, sollte er doch zum Teufel gehen! Wen kümmerte das schon? Ihr graute ohnehin davor, mit Eduardo heimzugehen.Nicht einmal Billy war zu Hause, sein Bettchen würde leer sein, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass ein Zuhause ohne ihr Baby sich keineswegs wie ein Zuhause für sie anfühlen würde. Und dass die bloße Vorstellung, morgen früh mit Eduardo allein zu sein, sie schrecklich nervös machte und das eigentlich nicht so sein dürfte.
Deshalb spazierte sie eine Weile durch die schneebedeckten Straßen, ohne richtig zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte. Heute, am neunzehnten Dezember, begannen für viele Leute die Weihnachtsferien, und so fand sie sich plötzlich mitten in einer Feiertags-Anarchie wieder. Die Ganztagstrinker mit ihren Weihnachtsmann-Mützen torkelten über die Straße, andere Leute knutschten in aller Öffentlichkeit, und auf den Stufen der Bibliothek am Market Square saß ein Mann, der sich völlig ungeniert zwischen seine gespreizte Knie erbrach.
Fröhliche Weihnachten …
Mia ging am Pub John O’Gaunt vorbei, eines der Lokale Lancasters mit der besten Livemusik, das an diesem Abend festlich beleuchtet war und sehr heimelig wirkte. Als Mia an der Tür vorbeikam, glaubte sie, die ersten Töne von Stella , einem der besten Songs der Fans, zu hören, und Frasers gefühlvolle, schwermütige Stimme; sie sah Norm am Schlagzeug und alle vier Mädchen: sich selbst, Liv, Melody und Anna, die damals alle Songs von Anfang bis Ende auswendig gekannt hatten. Wie stolz sie gewesen waren!
Dann spulte sie vor ins Hier und Jetzt: ein Tod, eine Scheidung … Würden wir anders leben, wenn wir wüssten, was uns erwartet?, fragte sie sich. Wahrscheinlich könnte man dann überhaupt nicht leben, und wenn sie zu viel darüber nachdachte, würde sie sowieso nur wieder weinen.
Genau in diesem Moment kam eine Gruppe von Mädchen mit Rentier-Mützen und viel Glitter an sich aus dem Pub.
»Frohe Weihnachten!«, schrie eine mit ausgeprägtem Lancaster-Akzent Mia zu. »Warum biste so allein? Komm und trink einen mit uns!«
Sternhagelvoll mit einer Gruppe von Fremden? Für einen erschreckenden Moment klang das wie die beste Idee der Welt. Doch dann kam Mia zur Besinnung. »Nein danke, aber trinkt einen für mich mit! Und auch euch ein frohes Weihnachtsfest!«, schrie sie über den Lärm zurück.
Frohe Weihnachten, Mia!
Sie ging zum Dalton Square, wo sie sich auf eine Bank setzte, bis ihr Allerwertester taub wurde, zog ihre Kunstpelzjacke noch fester um sich und legte den Kopf zurück. Der Himmel hing noch immer voller Schnee; er erinnerte sie an die Farbe von Pflaumenhaut, und zwischen den Silhouetten der hohen kahlen Bäume schimmerte gespenstisch gelb wie der Mond die Uhr des Rathauses. Aus einem der umliegenden Pubs hörte sie jemanden schreien: »Es ist bald Weiiiiihnachten!«
Eine schmerzliche Sehnsucht nach Billy erfasste sie; sie wollte sein nach Schlaf riechendes, in die Kissen gedrücktes Gesichtchen küssen. Für eine Sekunde dachte sie daran, zu Melody hinüberzugehen und genau das zu tun, nahm sich dann jedoch noch rechtzeitig zusammen. Melody hatte in letzter Zeit genug durchgemacht; sie nahm die bevorstehende Scheidung sehr, sehr schwer, und das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war, dass Mia als emotionales Wrack vor ihrer Tür auftauchte. Und außerdem, wenn sie richtig darüber nachdachte, war Billy im Moment der letzte Mensch, den sie sehen wollte, weil allein schon der Gedanke, wie niedlich er in seinem Pyjama aussah, ihr den Magen umdrehte vor Schuldgefühlen. Denn was war, wenn sie ihm nicht geben konnte, was sie immer für ihn gewollt hatte?
Nur eine Mum und einen Dad in derselben Wohnung – alles,was sie selbst nie gehabt hatte. Ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit. Sie hatte es versucht, sich alle Mühe gegeben, doch heute Abend war sie schon so gut wie zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht mehr so weitermachen konnte, selbst wenn es – wie ihre Mum zu sagen
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