Kleine Rache zwischendurch (German Edition)
aber nicht mehr ausreichend Futter. Sie blieben kleinwüchsig und ihre rote Farbe war verschwunden. Sie sahen alle ganz blass aus. Das tat mir leid, und ich begann, ihnen jede Woche eine genau dosierte Menge Trockenfutter zu geben. Mit dem Erfolg - mit welchem Erfolg? Die Schnecken wuchsen wieder groß und zeigten ihre schöne rote Farbe. Ein weiteres Jahr später, ich hatte konstant weitergefüttert, wimmelte es in dem Wasser vor Schnecken. Es müssen so an dreihundert gewesen sein, aber alle waren klein und blass. Was sagt dir das?«
Heiko hob seine Arme und vollführte einige fahrige Bewegungen. Er blies seine Backen auf, schüttelte den Kopf und sagte schlecht gelaunt: »Na, sie hungern, was sonst.«
»Richtig. Also, was hat mein Mitleid bewirkt?«
»Du wirst es mir gleich sagen.«
»Ja, ich sage es dir gleich. Jetzt hungerten dreihundert statt achtzig Schnecken. Das habe ich durch mein mitleidiges Füttern erreicht: dreihundert hungernde Schnecken statt achtzig. Ich habe durch Füttern, so paradox das klingen mag, den Hunger vermehrt.«
»Aha!«, rief Heiko, »jetzt begreife ich, warum du der Dritten Welt nie etwas spendest. Für dich sind Menschen nichts anderes als armselige Schnecken in einem Aquarium. Bist du wirklich so abgestumpft, Vater! Besinne dich! Menschen sind doch keine dummen Schnecken! Du befindest dich in erschreckender Nähe von Malthus. Du weißt doch, was er gesagt hatte: Man dürfe den Armen nicht helfen, denn sie würden dann nur noch mehr Kinder in die Welt setzen, und dann würden noch mehr hungern. Vater, das ist 200 Jahre her. Wir haben den Humanismus auf unsere Fahnen geschrieben!«
Heiko war entsetzt aufgesprungen und wanderte wütend umher. Er kochte. Aber sein Vater blieb ganz ruhig und fragte: »Und, habt ihr in den 200 Jahren den Hunger besiegt?«
Heiko reagierte nicht. Er durchmaß weiter in langen Schritten das Zimmer. Sein Vater rief: Habt ihr den Hunger besiegt?«
»Nein!«, knirschte Heiko, blieb stehen und ballte die Fäuste, »aber ...«
Weiter kam er nicht.
»Da gibt es kein Aber mehr. Nicht nach 200 Jahren. Schluss jetzt! Du wirst in einigen Jahren die Firma übernehmen. Bis dahin musst du es gelernt haben: Dieses Unternehmen - wie jedes andere auch - kann nicht mit Sentimentalitäten und grünem Umweltunfug geführt werden. Sieh dir die Daten zur Bevölkerungsexplosion an, und dann zeige mir, wo du einen Unterschied zwischen Menschen und Schnecken siehst. Die einen wie die anderen setzen jedes zusätzliche Gramm Futter sofort in Nachwuchs um. Das macht die ganze Natur so. Sattsein ist unnatürlich. Die Wirtschaft ist vorangekommen, weil das Ich sich vor das Wir gedrängt hat. Wenn jeder für sein eigenes Wohlergehen sorgt, dann geht es doch allen gut. Oder?«
»Aber Vater, das gilt doch nur, solange jeder zwar für sich, aber nicht gegen andere egoistisch ist.«
Sie stritten eine ganze Zeit hin und her. Von der Dritten Welt kamen sie auf den Tierschutz und auf die umweltschonende Energieerzeugung. Dann wurde der Altruismus allgemein behandelt, und Vater Großmann hatte es schwer, seinen Sohn zum Egoismus zurückzurufen. Er fühlte, es war keine gute Idee gewesen, das Gespräch auf einen Sonnabend zu legen. Während der regulären Arbeitszeit wären sie niemals auf solche nebensächlichen Themen gekommen, dafür wäre die Arbeitszeit zu kostbar gewesen.
Schließlich nahm Heiko das vorgeschlagene Diplomthema an. Er sagte zu, im Institut Segel und Takelung im Windkanal zu untersuchen. Natürlich an einem verkleinerten Modell. Die Originalsegel wären für den Forschungskanal viel zu groß gewesen. Er versprach, die Jacht richtig schnell zu machen.
Sein Vater berichtete ihm von den Hackerangriffen auf das Computernetz der Werft und ermahnte ihn, das Programm, mit dem er die Daten des Originalsegels aus den Modelldaten berechnen konnte, nicht auf der Festplatte eines Rechners zu speichern, sondern auf einer CD, und diese CD an einem Ort aufzubewahren, wo sie außer ihm niemand finden könnte.
»Keine Angst«, beruhigte Heiko seinen Vater, »wer die stehlen will, den wird der Geier beißen.«
Viele Käufer und noch mehr Neugierige besuchten die Werft. Täglich. Die meisten Kunden interessierten sich für kleine Boote. Die Lieferverträge für größere Einheiten wurden immer im Büro des Chefs ausgehandelt.
Wenige Tage vor der Besprechung zwischen Vater und Sohn hatte ein älterer Herr sich eine etwas größere Jacht angesehen. Er hatte seine Frau mitgebracht,
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