Kleine Schiffe
Formholzschaukelkurven, streckt den Zeigefinger nach vorn wie ein Schulmeister und betont: »Inklusive Tragetasche! Seht mal, die Sitz-und Liegeneigung ist vierfach verstellbar, und es gibt sogar einen Arretierkeil zur Feststellung der Wippfunktion!«
»Einen was?«
»Einen Arretierkeil! Wo lebt ihr denn? Was würdet ihr bloß ohne mich machen?«
Lilli und ich grinsen uns an. Dann sagt Lilli ehrlich: »Keine Ahnung, Tina. Vielen Dank!«
Abends liege ich im Bett und denke an Andreas. Wenn er mich jetzt sehen könnte . Während ich die winzigen Veränderungen und Entwicklungen bei Amélie und Lisa-Marie beobachte, begreife ich täglich besser, auf welche Weise das Leben Spuren hinterlässt. Leben heißt Wandel. Das gehört dazu. Wie die Jahreszeiten. Wir müssen nur vermeiden, diese Veränderungen zu bewerten. Die Babys wachsen dem Kleinkindstadium entgegen, und ich bekomme die eine oder andere Falte mehr. Das ist das Leben. Und es ist manchmal das Beste, was man sich vorstellen kann.
Eines Tages liegt eine bunte Grußkarte von Koch Stefan im Briefkasten. Er schreibt: »Jetzt weißt du also, wie sich der perfekte Strudelteig anfühlt!«
Tina hat sich bereits für die Fortsetzung des Kurses angemeldet und freut sich auf die Gelegenheit, mit Daniels (garantiert nicht schwulem) Bruder zu flirten. Bernhard hat diesmal seine Frau gleich mit angemeldet. Ich bin natürlich auch gefragt worden, ob ich wieder dabei sein möchte. Doch genau an dem Tag, an dem sich alle wieder im »Nil« treffen werden, habe ich etwas anderes vor. Denn eines Abends bringt mir Papa einen rosafarbenen Briefumschlag mit.
10. Kapitel
Du sagst das so
weil man das so sagt
du tust das so
weil man das so tut
du willst das so
weil es alle wollen.
Bernd Begemann: »Seifenoper Situation«
D ie haben ihn erst an unsere alte Adresse geschickt, und dann ist er auf Umwegen schließlich in meinem Briefkasten gelandet.« Er reicht mir den Umschlag und verschwindet im Wohnzimmer, wo Lilli mit den Babys auf dem Teppich vor dem Kamin liegt.
Ich stehe in der Küche und drehe den Brief in meinen Händen. Der Absender kommt mir seltsam vertraut vor: Babette Hofmeister. Babette! Meine alte Schulfreundin Babette. Das heißt, Freundin ist wohl der falsche Ausdruck. Babette war nie meine Freundin. Eher im Gegenteil – Babette hatte keine Freundinnen. Sie war die umschwärmte Klassenschönheit, und sie wählte aus. Babette ließ sich huldigen. Alle Jungen waren hinter ihr her, alle Mädchen beneideten sie. Auch ich.
Im Umschlag finde ich eine Karte mit der Einladung zu einem »längst fälligen Klassentreffen«. Auf der Karte ist ein Foto unseres Jahrgangs zu sehen. Ich kenne das Bild, ich bin mir sicher, dass es in einem meiner Alben klebt. Aber ich habe es seit Jahren nicht mehr angesehen. Wie jung wir waren! Wie ungelenk und unsicher. Auch Babette – das sehe ich jetzt. Dabei kam sie mir damals schon so weltgewandt und erfahren vor.
In der zweiten Reihe bin ich die Dritte von links. Ich stehe neben unserem Lehrer Dr.Hohle, den wir heimlich anschwärmten. Er hatte dunkle, seelenvolle Augen, und wenn er physikalische Formeln erklärte, klangen sie wie Poesie. Leider bekam ich trotzdem immer nur eine knappe Vier in Physik.
Babette steht in der Mitte vorn, ihre blonden Haare haben einen lustigen Schwung, und ihre knallengen Jeans stecken in hochhackigen Stiefeln. Auch Petra – wie war noch ihr Nachname? – und Julia erkenne ich, mit denen ich in der Volleyballschulmannschaft spielte. Ich sehe mir das Foto an und erinnere mich bis auf wenige Ausnahmen an alle Vornamen. Da sind Jürgen und Bernd, die Mathe-Cracks, Frank und Gerd, die Frechdachse, Matthias und Stephan, die Rebellen. Matthias wischte sich damals demonstrativ die Hand an der Jeans ab, nachdem ihm der Rektor das Abgangszeugnis überreicht hatte. Klaus, der Klassenbeste, und Stefan, der Rockmusiker, der eine wüste Garagen-Combo namens »The Manic Teabags« leitete. Die braven Mädchen Carola, Birthe, Bettina, Michaela und Annette stehen neben den Einser-Schülerinnen Andrea und Kathrin.
Mein Blick fliegt über die Reihen. Wo ist er denn nur? Endlich finde ich ihn. Michael Zedlick. Michel. Mein Michel. Den ich jahrelang heimlich und vergeblich liebte. Ein einziges Mal hat er mich geküsst: auf der letzten Schulparty vor dem Abschluss, obwohl er mit Babette zusammen war. Das war so aufregend, dass ich danach wochenlang nicht schlafen konnte. Ich dachte nur an ihn. Allerdings verloren wir uns
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