Kleine Suenden zum Dessert
Schmeißfliege erlegt, und der Bus setzte sich wieder in Bewegung. Sie kamen an Bächen vorbei, an sanften Hügeln und grünen Wiesen, und Grace betrachtete neidisch die Ruhe ausstrahlenden Schafe und Kühe auf der Weide. Die hatten es gut! Von denen musste sich keiner irgendwelche Sorgen machen! Sie hingegen würde gleich auf dem Festival Adam begegnen. Wie würde er reagieren, wenn sie mit Mann und Kindern im Schlepptau erschien? Wahrscheinlich würde er ausrasten. Und dann? Als habe Ewan ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Wir müssen über ein paar Dinge reden, Grace.«
»Ja.«
»Diese zwangsweise Trennung für einen Monat war vielleicht gar nicht so schlecht«, meinte er optimistisch. »Glaubst du?«
»Ja. Ich denke, alle Paare sollten ihrer Ehe ab und zu eine Atempause gönnen. Man hat Gelegenheit nachzudenken und sieht viele Dinge plötzlich in einem anderen Licht. Man erkennt, woran man arbeiten muss.«
»Das ist aus einem deiner Werbespots, Ewan!«
Er runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«
»Ja! Aus dem für den Zitronenschalen-Fußbodenreiniger«, sagte sie verstimmt.
»O ja!« Er freute sich darüber, dass sie sich daran erinnerte. Dann wurde er ernst, nahm ihre Hand und drückte sie. »Das Wichtigste ist, dass wir zu Hause sind, Grace. Jetzt wird das Leben wieder seinen normalen Gang gehen.«
»Vielleicht.« Sie bemühte sich, es positiv klingen zu lassen.
Doch es war zu viel passiert in diesem Sommer, als dass sie ihren Kaftan einfach ausziehen und ihr altes Leben nahtlos fortsetzen könnte - auch nicht mit einigen, kleinen Verbesserungen. Sie konnte nicht mehr die tüchtige, spießige Frau mit einem guten Posten und einer durchorganisierten Familie sein, denn diese Frau gab es nicht mehr. Sie hatte sich in eine Person verwandelt, die noch nicht ganz ausgegoren war: eine pummelige Frau, die durcheinander und mit Mängeln behaftet war und deren Haare geschnitten gehörten. Aber sie gefiel ihr besser.
Sie hielten vor der Abflughalle.
»Wollen Sie etwa mitkommen?«, fragte Frank alarmiert, als Grace ebenfalls aus dem Bus stieg.
»Nein, natürlich nicht. Ich möchte mich nur von Ihnen verabschieden.«
Er hatte sich fein gemacht und sah mit seinem Anzug und der Krawatte aus, als ginge er zu einem Vorstellungsgespräch. Am Kinn hatte er eine kleine Blessur vom Rasieren. Er wirkte wie ein Landei auf dem Weg in die Großstadt, und Grace spürte ihre Kehle eng werden. »Sind Sie okay?«, fragte Frank besorgt. »Ja. Ich hoffe nur, dass Sandy zu würdigen weiß, was Sie ihr zuliebe alles auf sich nehmen.«
»Das ist doch das Mindeste, was ich für sie tun kann«, erwiderte er. »Immerhin liegt sie schwer krank in der Klinik, und ich bin kerngesund.«
»Wissen Sie, in welcher Klinik sie liegt und auf welcher Station und in welchem Zimmer?« Grace hasste sich für den Zweifel in ihrer Stimme.
»Zimmer 299, zweiter Stock, Memorial Hospital, New York«, ratterte Frank herunter. »Das hat sie mir alles gestern Abend gemailt.«
»Gut.« Vielleicht war ihr Misstrauen ja tatsächlich unbegründet.
»Allerdings schrieb sie, das könnte sich kurzfristig ändern«, setzte er hinzu.
»Wie das?«
»Falls sie wegen ihrer Versicherung in ein billigeres Krankenhaus verlegt werden muss.«
Grace spürte, wie ein tiefer Seufzer sich von ihren Zehen auf den Weg nach oben machte. »Ich verstehe.«
»Das ist in Amerika anders als bei uns, wissen Sie? Man muss ausreichend versichert sein, wenn man ordentlich behandelt werden will.«
»Und Sandy ist nicht ausreichend versichert?«
Frank überprüfte angelegentlich das Namensschild an seiner Reisetasche. »Sie dachte, ihr Arbeitgeber würde sie versichern. Das stand jedenfalls in ihrem Anstellungsvertrag. Es war ein Schock für sie, als sie herausfand, dass nichts dergleichen geschehen war. Sie wird vor Gericht gehen, wenn das alles vorbei ist.«
»Dann bekommt sie die Nieren nur, wenn sie irgendwo Geld auftreibt?«
»Man kann Gesundheit nicht mit Geld aufwiegen, stimmt‘s? Alles Geld der Welt ist nichts wert, wenn man krank ist. Und das begreift man, wenn ...«
»Was wird es kosten? Ungefähr hunderttausend Dollar?«
»Das begreift man, wenn ein Mensch krank wird, der einem nahe steht«, ignorierte er ihre Frage. »Wenn dieser Mensch im Sterben liegt. Dann erkennt man, was im Leben wirklich wichtig ist.«
»Oder bekommt man bei zwei Nieren Mengenrabatt?«
Frank hielt sich wie ein kleiner Junge die Ohren zu. »Hören Sie auf! Hören Sie auf! Sie ist meine
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