Kleine Suenden zum Dessert
irgendwelchen Steinen hervorgekrochen, wenn etwas Schlimmes passiert war. Aufrecht zu sitzen wie jetzt gab ihr Gelegenheit, zum ersten Mal ihren lädierten Fuß zu sehen. Nicht, dass viel zu sehen gewesen wäre - nur ein weißer Verband, der an einer Stelle von einer gelblichen Flüssigkeit durchweicht war. Sie hatte keine Schmerzen. Natürlich war sie mit Morphium voll gepumpt. Allerdings ließ die Wirkung allmählich nach, was sie begrüßte, denn es machte alles sehr unklar und vage. Jemand hatte sie angeschossen, da war sie ganz sicher. Oder?
Wie sie da auf dem kalten WC-Sitz saß und ihre knochigen, weißen Knie unter dem bekleckerten Krankenhaushemd hervorstachen, fühlte sie sich plötzlich schwach und klein und wollte die Schwester rufen, die bullige Schwester, die mit einem einzigen Wort alles besser machen konnte. Sie sehnte sich nach JJ. Manchmal, wenn sie nachts aufwachte, war die Stille so tief, dass sie den Schlag ihrer Lider hören konnte. Es war das einsamste Geräusch der Welt.
Die Krücken waren starr und ungewohnt, und sie brauchte zwei Anläufe, um ihre Arme richtig in die grauen Plastikhalterungen zu stecken. Aber sie schaffte es. Und es gelang ihr auch, die Toilettentür zu öffnen, ohne der Länge nach hinzuschlagen. Hurra! Es war schon recht grausam, wie das Alter den Leistungsstandard veränderte: Heutzutage war es schon ein Grund zum Feiern, wenn sie sich aufrecht hielt. Als sie ins Zimmer zurückkam, lagen dort Michael und Gillian auf der Lauer. Sie hatten sich offenbar an der Stationsschwester vorbeigemogelt.
»Hallo!« Julia hoffte, dass es freundlich klang. »Etwas früh für einen Besuch, oder?«
»Wir wollten doch wissen, wie es dir geht, Mammy«, sagte Michael.
»Wir haben dir Trauben mitgebracht.« Gillian schwebte an ihr vorbei zum Nachttisch. Andere Frauen dufteten nach Parfüm - Gillian roch nach Sagrotan. Immer.
»Wie geht‘s mit deiner Bronchitis?«, erkundigte sich Julia. »Sind die Untersuchungsergebnisse inzwischen gekommen?«
Gillian schaute sie leicht misstrauisch an. »Nein - aber ich fühle mich viel besser.« Ihre Kieksstimme klang atemlos. »Viel wichtiger ist, wie es dir geht.«
»Großartig«, antwortete Julia und setzte in vertraulichem Ton hinzu: »Ich hatte gerade Verdauung.« Darauf herrschte einen Moment lang Schweigen, wonach ihre Besucher sich Stühle holten und sich setzten. Michael füllte seinen mehr als aus. Gillian hockte auf der Kante wie ein magersüchtiger Vogel. Manchmal versuchte Julia sich die beiden im Bett vorzustellen. Wie schaffte er es, sie nicht zu zerquetschen? Allerdings war sie eine Frau, die körperliche Betätigungen jeglicher Art verabscheute, und so ergab sich dieses Risiko höchstwahrscheinlich nur selten. Etwa zweimal im Jahr, großzügig geschätzt. Armer Michael. Sie musste damit aufhören. Immerhin waren sie ihre Familie, die Einzigen auf der Welt, die noch zu ihr gehörten. Niemand konnte etwas dafür, dass sie nichts gemeinsam hatten.
»Der Arzt war heute früh da«, eröffnete sie die Konversation.
»Ach ja?«, quietschte Gillian. Man sollte sie mal ölen, dachte Julia.
»Er war einer der Ärzte, die sich um JJ kümmerten, als er eingeliefert wurde«, erzählte sie weiter.
»Tatsächlich?«, sagte Michael.
»Erinnerte sich sofort an JJ, als ich ihn erwähnte. Sagte, er hätte vorher noch nie jemanden nach einem schweren Schlaganfall aufrecht im Bett sitzen sehen.«
»Stell dir vor!«, quiekte Gillian.
»JJ war sogar in der Lage, ihm die Fußballergebnisse mitzuteilen - ist das zu glauben? Aber geistig war er immer auf Zack. Einmal, in den Alpen, brach er sich beim Klettern ein Bein. Das war, als er an dieser Brücke in der Schweiz arbeitete, Gillian. Die Schmerzen müssen schrecklich gewesen sein, aber er ließ sich den Leuten gegenüber, die ihn runterbrachten, nichts anmerken.«
»Ich weiß. Das hast du mir schon mal erzählt«, murmelte ihre Schwiegertochter.
Julia konnte sich nicht daran erinnern - aber es gab ja so viele Geschichten über JJ.
»Hör mal, Mammy - Gillian und ich haben uns unterhalten, und wir würden gern was drauflegen, damit du privat liegen und behandelt werden kannst«, sagte Michael. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört.
»Warum?«
»Du hättest dann ein eigenes Zimmer, und es gibt einen Arzt hier, Dr. Murphy ...«
Sie war noch immer gekränkt über seine Unaufmerksamkeit. »Ich bin sehr zufrieden mit meinem Arzt.«
»Wir wollen doch nur dein Bestes, Mammy.« JJ und sie hatten
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