Kleine Suenden zum Dessert
gern noch ein Kind.« Ewan hatte bei seinem Anruf aus Florida gestern Abend nichts von einem Kinderwunsch verlauten lassen. Im Gegenteil. Er hatte geklagt, dass er sich nach erwachsener Gesellschaft sehne, und daraus ließ sich schließen, dass er zumindest im Moment nicht den Wunsch hatte, neues Leben zu zeugen. Und das sagte Grace ihrer Freundin. »Du könntest ihn bestimmt überreden«, meinte Natalie, die nicht so schnell aufgeben wollte.
»Das kann sein - aber warum sollte ich?«
Natalie ließ sich verstimmt auf ihrem Stuhl nach hinten sinken. »Du hast erst vor ein paar Wochen gesagt, dass du nicht ausgelastet seist! Dass du daran dächtest, einen Malkurs zu besuchen.«
»Das war deine Idee - nicht meine. Ich will kein Kind mehr, Natalie.«
Sie hatte das nie laut ausgesprochen - vielleicht war die Entscheidung eben erst gefallen. Es war keine große Sache. Die Entscheidung hing einen Moment lang im Raum, schwebte dann davon und ließ Grace mit einem angenehmen Gefühl der Erleichterung zurück. Verantwortung abzulehnen gefiel ihr, dachte sie.
»Und was willst du dann?«, fragte Natalie in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie Grace für ein selbstsüchtiges Monster hielt.
»Natalie! Rosie hat es geschafft, den Kopf durch die Katzenklappe zu stecken. Wir wollen doch nicht, dass sie geköpft wird, oder?«, sagte Grace freundlich.
»Oh!« Natalie eilte ihrer Tochter zu Hilfe, und das gerade noch rechtzeitig, denn eine Sekunde später flog die Hintertür auf, und Julia kam, auf eine Krücke gestützt, hereingehumpelt.
»Wir haben noch zwei Gäste mehr zum Dinner, Grace.«
»O Julia!« Es waren jetzt schon vierzehn - die meisten davon saßen mit Adam draußen auf dem Rasen. Ihren Mienen nach zu urteilen hielten sie eine Art Kriegsrat ab. »Wenn Sie wollen, koche ich«, bot Julia fröhlich an, und Grace vermutete, dass sie das nur tat, weil sie genau wusste, dass sie nicht beim Wort genommen würde. Ihren bisherigen kulinarischen Leistungen nach war Julia in der Küche nicht gerade ein Ass. Das traf auch auf ihre übrigen hausfraulichen Fähigkeiten zu.
»Wo ist die zweite Krücke?«, erkundigte sich Grace.
»Nörgel, nörgel, nörgel«, sagte Julia kopfschüttelnd zu Natalie. »Etwas anderes höre ich von ihr nicht.«
»Ich habe mich verpflichtet, mich um sie zu kümmern«, hielt Grace ihr vor Augen. Das beinhaltete, dafür zu sorgen, dass Julia ihre Nachsorgetermine in der Ambulanz des Krankenhauses wahrnahm, ihre Medikamente einnahm und früh zu Bett ging. Sich um zwei lebhafte Zehnjährige zu kümmern, war im Vergleich damit ein Klacks, und das hatte sie Ewan auch gesagt, als er im Lauf eines ihrer Telefonate meinte, sie hätte das kleinere von zwei Übeln erwischt.
»Übrigens ist es Zeit für Ihre Übungen«, setzte Grace hinzu.
»Ja, ja, später. Martine wartet auf mich. Bis nachher!« Julia stieß mit ihrer Krücke die Tür auf und ging. Eine herrlich kühle Brise wehte von draußen herein - und die Stimme des Sprechers, der in dem Radio, das im Garten lief, die Nachrichten vorlas.
Die Regierung muss noch entscheiden, ob sie dem umstrittenen Transport von MOX-Kernbrennstoff, der von Japan nach Wales unterwegs ist und am Wochenende irische Gewässer erreichen soll, eine Marineeskorte an die Seite stellt... »Rosie! Du bleibst hier!« Natalie packte ihr Kind und schloss die Hintertür mit einem Fußtritt.
»Sag mal, Grace, was war das eigentlich mit dem Haus von diesem Frank?«
»Was meinst du?«
»Na ja - er hat im Hauptbüro angerufen und sich über dich beschwert.« Sie schaute Grace mit runden Augen an. »Du hast doch nicht wirklich gesagt, dass sein Haus scheußlich sei, oder?«
»Doch, das habe ich«, antwortete Grace fröhlich. Nicht einmal Natalies prüfender Blick konnte ihr die Laune verderben. Der Kaftan, den Julia ihr geliehen hatte, mochte ein wenig zu weit sein, doch der Stoff war herrlich leicht und verschleierte die Tatsache, dass sie keinen Büstenhalter trug. (Man schwitzte im Sommer so mit den Dingern, und sie engten einen ein. Sie wusste nicht, wie sie das all die Jahre ausgehalten hatte. Es war wider die Natur.)
Natalie hatte es noch nicht bemerkt, was überraschend war, denn ihrem scharfen Auge entging normalerweise nichts.
Graces Frisur hatte ihr bereits Anlass zur Kritik gegeben. Nun gut, dass sie Graces Achselhöhlen nicht sehen konnte und die herrlich unrasierten Beine unter dem Kaftan. »Kannst du zum Dinner bleiben?«, fragte Grace. »Es ist ein so
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