Kleiner Kummer Großer Kummer
lassen, was sie wollte.
Die erste Überraschung empfing uns schon, bevor das Essen begann. Iris hatte den Tisch mit dem besten Geschirr, unseren kostbarsten Gläsern und all den netten Kleinigkeiten gedeckt, die wir für besondere Gelegenheiten verwendeten, und sie hatte sogar zwei scharlachrote Kerzen angezündet, wie sie es bei Sylvia gesehen hatte.
Sylvia und ich waren einfach sprachlos vor Erstaunen, als sie uns »Oeuf en cocotte«, »Huhn à la Marengo« und Zitronen-Soufflé servierte. Es war Sylvias Renommier-Dinner, aber sie hätte es selbst nicht besser machen können. Die Musgroves waren sehr beeindruckt. Mrs. Musgrove plauderte mit Sylvia über Babys, und Musgrove weihte mich in die Geheimnisse des Börsenmarktes ein.
Sie gingen um Mitternacht, nachdem sie noch mein Sprech- und Wartezimmer, das Bettjäckchen, das Sylvia gestrickt, und die Häschen, die ich an die Kinderzimmerwand geklebt hatte, bewundert hatten.
In der Küche trocknete Iris, müde, aber glücklich, die letzten Kaffeetassen ab.
»Woher haben Sie das Huhn?« fragte Sylvia. »Wir hatten doch gar nichts im Haus.«
»Sie sagten doch, daß Sie nur braten können«, sagte ich vorwurfsvoll.
»Wir hatten nur noch drei heile Cocotte-Teller«, schüttelte Sylvia den Kopf, »und Sie haben uns vier vorgesetzt.« Sie fiel auf den nächsten Stuhl.
»Heraus damit, Iris!« forderte ich sie auf. »Was geht hier vor?«
»Wirklich nichts, Doktor, überhaupt nichts. Als Sie anriefen, wollte ich Ihnen doch sagen, daß ich hier ganz allein bin, aber Sie hörten gar nicht zu. Nun, ich konnte Sie doch nicht Ihre Freunde hierherbringen lassen und ihnen kaltes Fleisch von gestern vorsetzen. Übrigens wäre das mit Ach und Krach nicht genug gewesen. So habe ich mir Hodges Rad geliehen, bin zum Schlachter gesaust und habe ein Huhn gekauft, den fehlenden Teller habe ich aus dem Porzellanladen mitgebracht, die Zitronen und das Gemüse habe ich geholt, und dann habe ich alles nach dem Buch gemacht. Ich habe ja immer aufgepaßt, wie es aussehen muß.«
»Woher hast du denn das Geld gehabt?« fragte Sylvia.
»Och! Das habe ich von meinem Postsparbuch abgehoben. Am liebsten hätte ich ja die Süßspeise mit frischer Ananas gemacht, wie Sie sie manchmal servieren, aber die war mir zu teuer. Da habe ich Zitronen genommen. War alles in Ordnung?« fragte sie ängstlich.
Sylvia stand auf und küßte sie.
»Ja, Iris«, sagte sie. »Es war mehr als das. Es war erstklassig.«
17
Den Grund für das immer seltsamer werdende Benehmen von Iris entdeckte ich einige Wochen später, und zwar in der Volksbibliothek.
Inzwischen war es richtig Sommer geworden, der Rasen vertrocknete durch den fehlenden Regen, und Sylvia hatte bald das Ende ihrer Schwangerschaft erreicht. Das Herumgehen fiel ihr schwer, und sie litt fast immer unter Kopfschmerzen, so daß sie die meiste Zeit im Liegen zubrachte. Iris nahm willig die doppelte Arbeit auf sich und erledigte auch die Telefonanrufe, seit Sylvia nicht mehr so leicht aufspringen konnte. Sie beschwerte sich nie, bemühte sich um Sylvia, wo sie nur konnte, und wartete gespannt auf das Baby.
An einem Mittwochnachmittag ging ich in die Volksbibliothek, um mir ein Buch über die Landschaft zu leihen, die ich bei meinen Besuchen in Tessa Brindleys Landhaus durchfahren mußte und die mich sehr interessierte. An einem der runden Tische im Lesesaal, in ihrem besten Ausgehstaat, saß Iris. Sie las in einem Band der Encyclopedia Britannica , die, wie ich bei einem Blick über ihre Schulter sah, bei einer Abhandlung über die Forstwirtschaft geöffnet war.
Ich störte sie nicht, sah mich aber nach einer Erklärung um. Oben auf der höchsten Sprosse einer Leiter sitzend, entdeckte ich meinen Patienten, den gutaussehenden Mr. Westbeech, der, nachdem er einige Bücher fortgestellt hatte, verloren auf den roten Haarschopf hinunterstarrte. Ich erinnerte mich an seinen herausgesprungenen Wirbel und Iris’ Hilfe. Plötzlich merkte Mr. Westbeech, daß ich ihn beobachtete, und fiel fast von der Leiter.
Als Iris an diesem Abend heimkam, hatte ich gerade abgeschlossen.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Forstwirtschaft interessieren«, erwähnte ich beiläufig.
Sie blieb stocksteif stehen, ihren Schlüssel noch in der Tür.
»Für was?«
»Forstwirtschaft«, wiederholte ich. »Darüber haben Sie doch in der Bibliothek gelesen.«
Bei dem Wort Bibliothek wurde sie dunkelrot.
»Oh!« entfuhr es ihr.
»Wie steht’s mit Ihnen und Mr.
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