Kleiner Kummer Großer Kummer
sich uns, nachdem er hörte, daß wir Ärzte seien, als berühmter Chirurg vor, nannte die Krankenhäuser, in denen er gearbeitet hätte, und erwähnte die Namen von Wissenschaftlern und Chirurgen, die er angeblich gut gekannt habe, die jedoch schon lange tot waren.
Es war ein interessanter Nachmittag gewesen, wir waren aber beide froh, als wir, endlich wieder draußen, durch die liebliche, freie Landschaft heimfuhren. Dieser kleine Einblick in das Leben hinter dieser hohen Ziegelmauer war etwas, das keiner von uns leicht vergessen würde. Die schreckliche und erschütternde Atmosphäre hatte einen unverwischbaren Eindruck in unserem Gedächtnis hinterlassen. Zu solch einem Leben war Andrew Melrose nun verurteilt worden.
Geisteskrankheit ist immer noch, selbst in ihrer leichtesten Form, für die Allgemeinheit ein Schimpf und eine Schande, oder zum mindesten ein Beweis moralischer Schwäche. Sogar in unserer aufgeklärten Zeit glauben die Patienten, und vor allem die Angehörigen, daß die Einweisung in eine Irrenanstalt oder auch nur in eine Nervenklinik ein Geschehen ist, das mit allen Mitteln vermieden werden muß.
Mr. Fletcher war einer meiner Patienten, der einen kurzen Aufenthalt in einer Nervenklinik hinter sich hatte und entschlossen war, nicht dorthin zurückzukehren. Allein dadurch, daß ich das wußte, war ich in der Lage, ihm bei einer Gelegenheit zu helfen.
Er war ein Mann von fünfundvierzig, der unter leichten Depressionen litt, die ab und zu einen hysterischen Ausbruch hervorriefen. Oft wurde er nervös über sich selbst, und wenn er das Leben nicht mehr zu ertragen fand, fiel er in einen hysterischen Dämmerzustand, aus dem man ihn oft kaum erwecken konnte. Da er ein ärmliches Leben in zwei Räumen mit einer nörgelnden, kränklichen Frau führte, wuchsen dem armen Mr. Fletcher die Dinge sehr häufig über den Kopf. In bestimmten Abständen wurde ich von verschiedenen Nachbarn angerufen, die Mr. Fletcher zusammengebrochen und ohne Bewußtsein auf der Straße gefunden hatten.
Schließlich kamen diese Anfälle so häufig, daß ich ihn in eine Nervenklinik schicken mußte, wo man ihn mit Insulinschock, Beruhigungsmitteln und Suggestion behandelte. Hiernach schien es ihm ein ganzes Teil besser zu gehen, er schwor aber, nie wieder dorthin zurückzugehen. Ich sagte ihm, daß das auch nicht in Frage kommen würde, wenn er sich in der Hand halten würde, und gebrauchte es als Drohung, wenn er in seinen früheren Zustand zurückzukehren schien.
Eine ganze Zeitlang hielt sich Mr. Fletcher gut.
Eines Tages jedoch rief mich seine Frau an, um mir mitzuteilen, daß er schon seit vierundzwanzig Stunden unbeweglich und bewußtlos im Bett läge. Sie hatte alles mögliche versucht, ihn aber vollkommen unansprechbar gefunden, und wußte sich nun keinen Rat mehr. Ich sagte ihr zu, daß ich kommen würde.
Genauso wie sie es mir beschrieben hatte, fand ich Mr. Fletcher vor. Wenn ich ihn nicht seit langem gekannt hätte, würde ich angenommen haben, daß er vollkommen außer Bewußtsein sei. Als ich irgendeine Reaktion bei ihm zu wecken suchte, hatte ich nicht mehr Erfolg als seine Frau. Schließlich nahm ich meine Tasche aut und sagte laut:
»Es tut mir leid, Mrs. Fletcher, aber ich werde Ihren Mann wieder in die Klinik einweisen müssen.« Zu der hingestreckten Gestalt auf dem Bett sagte ich mit gleicher Lautstärke:
»Mr. Fletcher, meine Sprechstunde beginnt heute abend um sechs Uhr. Wenn ich Sie nicht um halb sechs im Wartezimmer sehe, werde ich in der Klinik Bescheid geben, daß man Sie wieder abholt.« Darauf ging ich aus dem Schlafzimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Draußen bückte ich mich und blickte durch das Schlüsselloch. Eine Weile passierte nichts, und ich wollte mich schon aufrichten, weil ich einen Krampf in meinen Beinen bekam, als Mr. Fletcher sich im Bett aufrichtete.
»Potztausend«, rief er seiner Frau zu, »er ist ein ganz verdammter Kerl, was?«
Es ist einfach, die Menschen wegen ihrer Angst und ihres Zitterns vor Geistesgestörtheit und psychiatrischer Behandlung zu tadeln, aber selbst die großzügigsten und klügsten Ärzte suchen ihre Kollegen von der Nervenheilkunde in eigener Sache oder wegen ihrer Angehörigen nur mit einem gewissen Grad von Heimlichkeit auf.
Das ist ein Zustand, der dringend einer Änderung bedarf und der mich sehr interessierte. Ich war der Ansicht, daß die rechtzeitige Erkenntnis einer Geistesstörung besonders wichtig sei, und ich bemühte mich, meine
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