Kleines Lexikon christlicher Irrtümer - von Abendmahl bis Zungenreden
erzählen und sie darauf vorbereiten. Dabei richtete er seine Botschaft hauptsächlich an das jüdische Volk, schloss aber dennoch niemanden aus, der bereit war, zu glauben. Als eine Kanaanäerin zu ihm kommt und um
Hilfe für ihre kranke Tochter bittet, sagt er zunächst: »Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Matthäus 15,24). Als er allerdings sieht, wie groß der Glaube dieser Frau ist, hilft er ihrer Tochter dennoch. An dieser Geschichte lässt sich auch das Besondere an Jesu Einstellung erstarrten Vorstellungen und alten Traditionen gegenüber erkennen. Er nahm sie zwar ernst, wurde aber nur noch um ihrer selbst willen auf Gebote gepocht, maß er sie an ihrem Nutzen für den Glauben und das Leben der Menschen und wendete sich, wenn er keinen Nutzen erkennen konnte, unbekümmert dagegen. So tolerierte er zum Beispiel die Tatsache, dass seine Jünger gegen die Reinheitsvorschriften beim Essen verstießen. Darauf angesprochen, konterte er: »Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht« (Markus 7,15). Mit solchen Sätzen und Einstellungen wollte Jesus die erstarrten Strukturen einer zu starken Prinzipienreiterei durchbrechen, nicht aber eine neue Religion gründen. Da er allerdings offensichtlich mit sehr starker Ausstrahlung und Überzeugungskraft predigte und lehrte, gab es bald immer mehr Menschen unter den Juden, die ihn für den ersehnten Messias hielten, den Retter, der ein neues Zeitalter herbeiführen sollte. Jesus selbst hat nie behauptet, dieser Messias zu sein, es aber auch nicht abgestritten. Kurz vor seinem Tod vom Statthalter gefragt, ob er denn nun der erwartete König der Juden sei, antwortete er zweideutig: »Du sagst es« (Matthäus 27,11).
Jesus sah sich als Jude in jüdischer Tradition. Erst als seine Botschaft und die Geschehnisse um Jesu Tod und Auferstehung die Menschen so sehr beeindruckten, dass sie ihn als den erwarteten Messias ansahen, war die Grundlage für eine neue Religion, das Christentum, gelegt. Zunächst jedoch dauerte es noch viele Jahre, bis das Christentum nicht mehr als jüdische Sekte, sondern als eigenständige Religion angesehen wurde, deren Gemeinden nicht nur jüdische Christen, sondern auch Heidenchristen angehörten. Hauptverantwortlich für diese Öffnung den Heiden
gegenüber war Paulus, der sich mit seiner Ansicht, das Evangelium sei nicht nur für Juden gedacht, gegen Petrus durchsetzte. Paulus war zudem der einzige »Apostel«, der Jesus gar nicht persönlich gekannt hatte, sondern durch ein Visionserlebnis zum Glauben gekommen war. Man könnte also mit gutem Recht sagen, nicht Jesus, sondern Paulus war der erste Christ.
Um CHRIST zu sein, muss man Kirchenmitglied sein
»Für Katholiken ist die Kirche eine Mutter, für Protestanten ein Problem« – mit dieser treffenden These leitet ein evangelisches Schulbuch ein Kapitel mit dem Titel »Dennoch brauchen wir die Kirche« ein. Die Aussage bringt es auf den Punkt: Viele Christen haben heute ein gespaltenes Verhältnis zur Institution Kirche – Protestanten in anderer Weise als Katholiken. Und die Frage, wozu wir die Kirche eigentlich brauchen, kann – bis auf die katholische Kirche selbst – kaum noch jemand eindeutig beantworten.
Wie kam es in den Konfessionen zu so unterschiedlichen Einstellungen der Kirche gegenüber? Muss ich tatsächlich Kirchenmitglied sein, um Christ sein zu können? Und wenn nicht — wozu brauchen wir die Kirche dann noch?
Die katholische Kirche vertritt ein nahezu unverrückbares Selbstverständnis. Sie versteht sich als von Jesus selbst begründet und ihre Ämter führt sie in ununterbrochener Folge auf Petrus als den »Felsen« zurück, auf den Jesus seine Gemeinde habe gründen wollen (Matthäus 16,18). Daher stehe es ihr und nur ihr kraft ihrer Dienste und Ämter zu, den Glauben und die Sakramente in der richtigen Weise an die Menschen zu übermitteln. »Außerhalb der Kirche kein Heil«, sagte schon der Kirchenvater Tertullian
(ca. 150 – 230 n. Chr.), und Cyprian (ca. 200 – 258 n. Chr.) fügte hinzu: »Es kann nicht Gott zum Vater haben, wer nicht die Kirche zur Mutter hat.« Aus der Sicht der katholischen Kirche steht also fest: Nur wer sich uneingeschränkt ihren Traditionen und Lehren unterstellt, kann wirklich Christ sein. Dass ihr dennoch immer wieder Schäfchen unterkommen, die das nicht ganz so sehen,
Weitere Kostenlose Bücher