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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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in den Ort, am Schützenhaus den Wagen hingestellt, ein Weilchen am Seeufer gegangen, während Grete auf einer Bank sass. Ein sehr grosses Gewässer, ganz umwaldet. Ein erhöht hineinspringender Ortsteil wirkt ganz italienisch (auf Distanz natürlich). Eine Fähre. Villen an der Walduferstr., Bootsplätze, Bäume unmittelba[ a ]r am Wasser, Angler, ein quakender Frosch, Stille. Zurück zum frühen Mittag, * Eva bekam noch ein schönes Schmuckstück als Gastgeschenk, wir mussten schwören wiederzukommen. Abfahrt zwei Uhr. In meinem kalten Herzen war ich eigentlich froh dies erledigt zu haben. Das Gefühl der Fremdheit hat mich keinen Augenblick verlassen.
    Nun die 35 km. nach Berlin, erst noch die Mark, ein weiterer grosser See, dann begann allmählich der Vororttyp und Vorortverkehr, wir rollten die Frankfurter Allee hinab, und dann fing am Alexanderplatz das grosse Treiben an. Ich kam gut am Schloss vorbei und in die Linden. Ungeheurer Eindruck, nicht der Strasse – ich sah nur die Lindchen, 1 sonst nichts von ihr – sondern des Riesenverkehrs, wie ich ihn vordem nur in Paris und Buenos Aires gesehen. Die Wagen in der Fahrbahn zu vieren nebeneinander, man muss auf den Centimeter Strich halten. Ich kam gut durch, aber mir rannen die dicken Schweisstropfen herunter. Immer ein Stückchen rasch im Geschiebe vorwärts, dann Stoppen. Ich fand erst nicht die Verkehrslampen, die klein und versteckt seitlich brennen. Einmal hielt ich im letzten Augenblick. Ein Schupo im weissen Rock (wie die russischen Studenten, sagt Eva) kam warnend an mich heran, sehr höflich und eigentlich väterlich mahnend, als er die auswärtige Nummer sah. Beide Tage hindurch bin ich wiederholt von [d]er freundlichen und humorvollen Art der Schupos geradezu entzückt gewesen; ein gleiches gilt vom Berliner Volk, mit dem ich nach so vielen Jahren wieder einmal ein klein wenig in Berührung kam. Wir fuhren durch das Brandenburger Tor, die Charlottenburger Chaussee und in die unbekannte westliche Weite, wir waren am Funkturm, wir fuhren zweimal über die Halensee-Brücke, bis wir endlich die Kudowastr. fanden. Überall schönste Villenstrassen, überall Strassen mit grossen Mietshäusern und doch grüngebettete und gründurchzogene Strassen. Das hat es gewiss schon ähnlich vordem gegeben, das gibt es ähnlich auch bei uns in Dresden – aber diese riesige Ausdehnung! Wahrhaftig, die Weltstadt. Ich weiss nicht: ist Berlin wirklich so gewachsen, oder bin ich so verbauert? Jedenfalls war ich förmlich fasciniert, und der ungeheure Eindruck der Stadt verstärkte sich immer mehr. Zwischen Kaffee und Abendbrod ging ich mit * Jelski ein paar Schritte spazieren, sah einen riesigen Sportrasen, auf dem ein paar Mädchen Discuswerfen übten, ein paar liefen, Jungen Ball spielten, sah die riesige Liegewiese, die dem Häuserblock der Kudowastr. zum gemeinsamen Garten dient. – Zum Kaffee war * Sussmann dagewesen, nach dem Essen erschien – übernatürlich dick und stämmig geworden – * Heinz Machol mit seiner zweit[e]n * Frau. Es wurde natürlich und unvermeidlicherweise viel politisiert, und da Jelski immer noch die Nazis einigermassen in Schutz nimmt und den Kommunismus fürchtet, ohne die Identität zu merken, so gerieten wir einmal hart aneinander. Aber ich stellte mit Entzücken fest, dass die früher so pessimistische Judenheit jetzt zuversichtlich gestimmt ist. Es soll sehr schlecht um die Regierung stehen, wirtschaftlich, und was die Stimmung im Lande anlangt. Machol[,] Ingenieur für Autowesen, behauptete geradezu, das Ende müsse noch dieses Jahr kommen. * Marta hatte die Nacht zuvor einen handschriftlich in Berlin cursierenden Brief 2 abgeschrieben, den * Thomas Mann zu Neujahr aus Küssnacht (!) in einer Schweizer Zeitung veröffentlicht hat: Antwort auf die Entziehung seines Doctordiploms und auf seine Ausbürgerung, an den Dekan der Univ.? gerichtet. Ich las den Brief am nächsten Morgen: furchtbar schroff und verächtlich. Aber mehr als der Inhalt erregte es mich, dass dieser Brief überall auf solche Weise cursiere. Mit dem verbotenen pästlichen Hirtenbrief 3 soll es ebenso sein, jeder habe ihn schon gelesen. ( * Grete in Halensee Strausberg hat im Briefkasten einen Kettenbrief an alle gefunden, die Schweineprozesse gegen die Kirche 4 beruhten auf Lüge.) .. Es gab neulich in Berlin einen Volksspargeltag, damit das Volk die Delikatesse zu billigen Preisen habe; bekannter Grund sei der Mangel an Conservenbüchsen. Es soll in vielen Betrieben

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