Klemperer, Viktor
immer mehr, mein Glaube an das Zustandekomen des Buches sinkt von Tag zu Tag.
Am Donnerstag hatten wir den Nachmittag u. Abend * Grete bei uns. Ganz friedlich ohne Rückgriff auf die Verstimmungen des Vorjahrs. Die allgemeine Not hat vieles fortgeschwemmt. G. fuhr nach Preß burg burg. Ihr Vetter (ihre Jugendliebe) * Bunzl hat sie eingeladen; u. da Wien für uns gesperrt ist, so quartiert er sie im tschechischen Pressburg 5 ein u. besucht sie dort. G. übernachtete im Hôtel. Sie erzählte, * Sußmanns ältester Bruder * Arthur habe sich vor wenigen Wochen das Leben genomen: Veronal im Hôtel, Martin 6 u. * Wally wurden von der Kriminalpolizei gerufen, die Leiche zu identifizieren. Arthur S. war ein gutmütiger Mensch, ein Optimist, Phantast u. Speculant. Er hat seinen Bruder studieren lassen, ihn oft begönnert. Im Jahre 1913 besuchte er uns mit * Martha u. Wally von Venedig komend in München; sie waren seine Gäste. Ich habe noch ein Kartenbild von den dreien, Tauben fütternd auf dem Marcusplatz. Ich sehe Arthur Onkel Arthurs weichen langen, salopp hängenden Schnurrbart.
Im Krieg hatte er irgend eine große Fabriksache aufgemacht; von Leipzig komend hatte ich vor den Angestellten ein paar Vorträge zu halten, die sehr gut bezahlt wurden. Nachher ging es dem Mann manchmal schlecht, manchmal sehr gut. Immer war er in seiner Phantasie obenauf, immer wollte er den Geschwistern helfen. Zuletzt soll er, ein tiefer Sechziger, noch eine reiche Heirat geplant haben. Nun der Zusamenbruch. (Wo nehmen die Leute Mut zum Selbstmord her?) * * Sußmanns sollen Geld dabei verloren haben. (Wohl dem, der noch Geld verlieren kann).
Noch eine Todesnachricht brachte * Grete: die dicke * Friedel Nietzsche, 1 in den letzten Jahren die Frau Oberlehrer Grauert, ist im Sommer gestorben. Sie war immer herzleidend u. verfettet, aber sie war höchstens 45 Jahre alt, wahrscheinlich erst 40. Sie soll von ihrem * Mann das Trinken gelernt haben .. In den letzten Jahren, seit * Eva am Gehen behindert, kamen wir kaum noch nach Kipsdorf; aber zwischen 1916 u. etwa 1926 standen wir mit dem Oberlausitzer Haus in sehr enger Verbindung, u. viele Tagebuchseiten handeln von ihm. Friedel N. war ein sehr beschränktes, geistig wohl zurückgebliebenes Wesen, eine sehr eng in ihrer Lebensführung. Aber sie hing sehr an Eva. Was ist es nun mit ihrer unsterblichen Seele? – Grete ist einigermaßen befreundet mit einer alten Lehrerin die im Oberlaus. Haus ständig wohnt; so erhielt sie die Todesnachricht. –
In den letzten Tagen ist Eva wieder viel in Dölzschen gewesen; die Gartenarbeit nimmt sie in Anspruch. Es sind nun auch die Ziegel zum Bau des famosen Kellers angefahren. Ich weiß nicht, wie lange ich noch das Geld für alles das aufbringen soll. Wenn in den nächsten Wochen, wie anzunehmen, der * Hueberprozeß gegen mich entschieden wird, kann ich mir das Harmonium oder die Bibliothek oder sonst etwas pfänden lassen. Ich mag nicht mehr über den nächsten Tag hinaus denken; aber jeden Morgen ist der entsetzliche u. jämerliche Druck auf der Seele da. Und jeden Tag verschlimmert sich meine Situation.
Heute in Dresden das große Treffen der sächsischen SA, 125 000 Mann paradieren vor dem * Statthalter. Gedränge, Fahnen, Guirlanden, Prunk u. Machtentfaltung sondergleichen. – Durch besonderes Gesetz wurde der § 6 des Beamtengesetzes, wonach jeder überflüssige Beamte in Ruhestand überführt werden kann, auf weitere 6 Monate verlängert. Im Somer wird er mich treffen. –
Seit einer Woche lese ich den Centaur von * Frank Thiess 2 vor[.] Ein sehr ungleiches u. wirres Buch. Die Geschichte des schwedischen Fliegers sehr gut; die Anfänge bei * Wright 3 besonders. (Ob Thiess den Falken von * Sinclair Lewis kennt?
Ganze Scenen stimmen aufs genaueste überein) Aber das viele schwüle u. uns unklare Gerede über Homosexualität u. Mystik stört sehr. Und in den Schlußteilen soll das Bild der komenden deutschen Revolution aufgerollt werden (1931 geschrieben), u. alles wird sehr wirr u. deklamatorisch u. dunkel, u. man sieht nicht, was Almquist damit zu tun hat, u. man komt den meisten anderen Menschen, die um ihn herumwimmeln, nicht nahe. Ausnahme der junge gänzlich verdorbene höchst begabte Dichterssohn Claus Römer. Wie in einigen Fliegerscenen von Sinclair Lewis, scheint mir Thiess hier mehrfach stark von * Feuchtwangers Erfolg beeinflußt, dazu in der Phantastik des Weltraumflugs von * Kurt Laßwitz.
Die ersten Tage waren wir sehr gefesselt
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