Klingenfieber: Roman (German Edition)
her. Dann entschied er sich für die Dörfer. Kuntelt, und hinter Kuntelt dann entweder Drutau oder Lugg. Falls er in Kuntelt keine Spur von ihr fand, konnte er umkehren, Schingerel auslassen und gleich versuchen, Erenis in der Niederstadt einzuholen. Aber er glaubte nicht an die Stadt. Er hatte Erenis im Wald getroffen. Der Wald war so weit entfernt von allen Städten wie nur möglich.
Also eilte er weiter und versuchte, Kuntelt noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen.
Das gelang ihm nicht ganz. Der Himmel, ohnehin verhangen wie mit einem Trauerflor, dunkelte schneller ein, als ihm lieb war. Der Sprühregen wurde stärker und zerplatzte an Stenrei mit tausend unbeträchtlichen Bedrängungen. Die Krume und ihre Beackerer mochten jauchzen vor Erleichterung, für einen Wanderer bedeutete der Regen matschiges Schuhwerk und verlangsamtes Vorankommen.
Stenrei stapfte durch eine Dunkelheit, die schwarz wie Tinte an ihm hochwaberte. Doch voraus über dem Horizont bildete sich ein fieberiges Leuchten aus.
War das etwa Kuntelt?
War Kuntelt bei Nacht denn nicht dunkel wie andere Dörfer auch?
Es durchfuhr Stenrei siedend heiß: Brannte Kuntelt etwa? Hatte die Klingentänzerin dieses Dorf dem Erdboden gleichgemacht?
Nein. Kuntelt brannte nicht. Aber es befand sich in buchstäblich heller Aufregung und leuchtete zittrig von hundert Fackeln und Laternen. Denn Kuntelt hatte sich von einem gesichtslosen Nichts in ein Schlachtfeld verwandelt. Weil Erenis hier durchgekommen war.
Stenrei näherte sich mit großer Vorsicht. In der zwischen den Fackeln sich abzeichnenden Hektik und Aufgebrachtheit wollte er keinesfalls für einen Plünderer, Unruhestifter oder vielleicht sogar für Erenis’ Verbündeten gehalten werden.
Nasse Menschen in öligen Überwürfen hetzten auf ihn zu. Der Regen ließ ihre Umrisse ausfransen.
Es gelang ihm klarzustellen, dass es sich bei ihm um einen unbewaffneten Boseler auf der Durchreise handelte.
Was war geschehen? Von Dorf zu Dorf schien Erenis’ rätselhafter Feldzug immer größeren Schaden anzurichten. In Bosel nur Kaskir. In Kattgraum schon Furko und die halbe Hand von einem seiner Freunde. In Kuntelt nun vier Männer, die alle tot waren, und ein fünfter, der schwer verletzt im Sterben lag, während seine drei Kinder um ihn weinten.
Was genau hatte sich ereignet? Obwohl oder vielleicht sogar weil Kuntelt nur halb so groß war wie Bosel oder Kattgraum, war die Situation hier vollends außer Kontrolle geraten. Zwei Männer hatten darum gekämpft, Erenis’ Gegner werden zu dürfen. Erenis hatte es schließlich mit beiden zusammen aufgenommen und die beiden Streithähne umgebracht. Daraufhin hatte sich die Bevölkerung auf sie zu stürzen versucht, und sie hatte sich mit dem Schwert eine Schneise gebahnt und war zu Pferd entkommen.
Stenrei ächzte. Sie hatte ein Pferd gestohlen. Das bedeutete, dass sie ihm entwischt war. Zu Fuß konnte er sie niemals einholen.
»Es war geradezu unheimlich«, sagte einer der besonneneren Kuntelter. »Sie hat um sich geschlagen, aber obwohl Frauen in vorderster Reihe standen, um sie zu packen und aufzuhalten, hat sie keine der Frauen auch nur gekratzt. Ihre Hiebe galten ausschließlich Männern. Und die haben das mit dem Leben bezahlt.«
»Hat sie etwas gesagt dabei?«
»Nur so was wie: Lasst mich gehen. Ich will euch nicht alle leiden lassen. «
»Hm. Und jetzt?«
»Wir haben die Büttel verständigt. Die Büttel aus Drutau. Wir haben vier Tote hier, wahrscheinlich bald fünf. Das mussten wir melden, denn es wird sich auf unsere Zehntenerträge auswirken.«
Das stimmte. Die Klingentänzerin hatte diesem sehr kleinen Dorf beträchtlichen Schaden zugefügt. Fünf Söhne, die vielleicht auch Väter waren. Selbst eine Einberufung der Dörfler zum Kampf gegen die Waldmenschen hätte kaum einen höheren Blutzoll verursachen können als die Durchreise dieser einzelnen Frau.
Stenrei fror, er wusste nicht, ob vor Kälte, Nässe, Müdigkeit, Hunger oder Grauen. Vier Tote! Vielleicht bald fünf!
In die Gesichter sämtlicher Menschen, die er hier nachts mit Fackeln und Laternen herumhetzen sah, obwohl es genau genommen überhaupt nichts zu tun gab, war dieselbe namenlose Furcht eingegraben. Die Furcht vor der Sinnlosigkeit. Die Waldmenschen waren wenigstens ein angestammter Feind, mit dem sich gemessen zu haben man hinterher prahlen konnte. Aber diese einzelne Frau, die aus dem Nichts kam und ins Nichts ging?
Er kehrte in einer Herberge ein, ließ ein paar
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