Klondike
sich. Man hob die Latrine aus, sammelte das Treibholz vom Ufer ein, verarbeitete es zu Brennholz, fütterte damit den tüchtigen kleinen Ofen, und die Männer sahen dabei zu, wie die Tage kürzer wurden.
Aber erst mit dem Einsetzen der langen Nächte zeigte sich der außergewöhnliche Charakter der Gruppe, denn unter Lutons kluger Führung organisierten sich die Männer zu einer Art Kolleg, in dem jedes Mitglied - mit Ausnahme von Fogarty - für einen bestimmten Abend die Verantwortung übernahm und ein Thema behandelte, über das er etwas wußte, egal, wie obskur oder von scheinbar geringem allgemeinen Interesse es auch sein mochte. An einem dieser Abende erläuterte Luton zum Beispiel die Verästelungen der Familie Bradcombe und ihre Rolle in der englischen Geschichte. Er erzählte von den ehelichen Verbindungen, von den Skandalen, den Morden, die es auch in seiner Familie gegeben hatte, und von den Diensten, die seine Vorfahren der Krone geleistet hatten. Anschließend verbrachten er und Harry über eine Stunde damit, sich gegenseitig faszinierende Beispiele ins Gedächtnis zurückzurufen, wie das Erstgeburtsrecht in ihren Familien funktionierte, um die Langlebigkeit des betreffenden Zweigs zu sichern. »Ein sinnvolles System«, sagte Evelyn. »Der erstgeborene Sohn erbt alles, Titel, Schlösser, Ländereien, Pachtrecht auf die reichen Lachsflüsse.«
»Sonderbar, aus deinem Mund eine Verteidigung des Systems zu hören«, bemerkte der junge Henslow, »wo du doch der jüngere Bruder von Nigel bist. Und es ist Nigel, der einmal alles erbt.«
»Aber das ist es doch gerade, was ich meine, Philip. Das Gesetz schreibt alles genau vor, Detail für Detail, so kann es zwischen Nigel und mir niemals zum Streit kommen.«
»Und du bist nicht neidisch? Nicht mal ein klein wenig?«
»Ich habe schließlich meinen eigenen Titel, einen Landsitz in Irland, das ist angemessen. Neid? Ich bezweifle, daß ich jemals auch nur einen Funken Neid hatte.«
Er wußte von mehreren höchst interessanten Fällen zu berichten, wie das Prinzip der unveräußerlichen Erblehen funktionierte, um wichtige Besitzungen der Familie Bradcombe zu schützen. »Man muß sich das so vorstellen. Mein Vater darf das Schloß in Wellfleet oder die beiden Häuser in Irland weder verkaufen noch verschenken. Sie müssen bei dem Titel bleiben, dürfen nur als Fideikommiß übertragen werden.«
»Interessante Situation«, sagte Harry. »Evelyns Vater darf seinen eigenen Rembrandt oder die beiden Jan Steens nicht verkaufen. Sie sind unveräußerlich.« Er lachte. »Habt ihr jemals von dem öffentlichen Skandal gehört, den mein Großvater auslöste, als er versuchte, die Bilder aus unserem Familienbesitz zu verkaufen, die eigentlich zum Erbe gehören? Er brauchte das Geld, um eine englische Schauspielerin zu unterstützen, die er in New York kennengelernt hatte. Brachte sie sogar per Schiff mit nach Hause. Es gab einen fürchterlichen Skandal. An der Schauspielerin störten sich die Frauen in unserer Familie nicht sonderlich, aber als er den Tizian verkaufen wollte, setzten sie Himmel und Hölle in Bewegung. Bemühten am Ende gar das Gesetz, ihn davon abzuhalten.«
Als Carpenter an der Reihe war, seine erste Sitzung zu leiten, überraschte er die Gruppe mit der Ankündigung, er wolle an seinen Abenden Abschnitt für Abschnitt den gesamten Roman »Große Erwartungen« laut vorlesen, von dem einer seiner Tutoren behauptet hatte, es handelte sich dabei um den am besten konstruierten aller englischen Romane, und im Laufe der Zeit freuten sich die anderen schon jedesmal auf seine Vorleseabende, vor allem als die Kälte einsetzte und der Fluß von dem Eis, das er vor sich herschob, regelrecht zu knistern anfing.
Sie ließen sich deswegen so bereitwillig auf die Geschichte ein, weil der Roman eine Komposition von meisterhaft gezeichneten Bildern war: das dramatische Auftreten des Sträflings auf dem Friedhof, Miss Favisham und ihr verschimmelter Hochzeitskuchen, Pips Boxstunden, die wunderbaren Szenen in London. »Wirklich ein verdammt guter Roman«, meinte Harry, »ausgezeichnet geeignet zum Vorlesen in einer Blockhütte am Polarkreis.«
Trevor Blythe hielt insgesamt vier Vorträge, die Aufschluß gaben über die magische poetische Kraft der großen englischen
Dichter Shelley, Keats, Byron und Wordsworth. Da sowohl seine Mutter als auch sein Tutor die Poesie liebten, konnte er als Folge ihrer Bemühungen lange Passagen aus den gelungeneren Werken dieser Dichter
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