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Klondike

Titel: Klondike Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Michener
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Trevor Blythes strahlender Tenor so lieblich durch den Raum, daß man meinen konnte, in der frostigen Luft draußen halle der Klang von Schlittenschellen wider. Sie erzählten von zu Hause, von ihren Familien und von der Pracht der Weihnachtsabende, die sie in England oder Irland begangen hatten. Dann verfiel einer nach dem anderen wieder in sein eigenes trauriges Schweigen, und nur das Brausen des Windes war zu vernehmen.
    Zwei Tage nach dem gemeinsamen Singen hörten die anderen plötzlich einen Schreckensruf von Trevor, und als sie in seine Richtung blickten, sahen sie, wie er zwei weitere seiner großen Backenzähne in der Hand hielt, makellos weiß und im Licht der Lampe wie feindselige Geisteraugen schimmernd. Bevor irgend jemand Mitleid mit ihm haben konnte, sagte er mit leiser Stimme, aus der tiefste Resignation sprach: »Ich bezweifle, daß ich den Frühling erlebe.«
    »Nun hör aber mal auf, Trevor!« polterte Luton drauflos, doch der junge Mann antwortete mit der Freundlichkeit, die ihn immer ausgezeichnet hatte: »Evelyn, reichst du mir bitte meinen Palgrave rüber?« Und als das so geschätzte kleine Buch gefunden war, bat Trevor: »Kannst du ein paar von den kürzeren Gedichten vorlesen?«
    Mit seinem sonoren Bariton las Lord Luton jene wundervollen, schlichten Zeilen vor, jene Gedanken, die wohl das Beste verkörperten, das England je in die Welt eingebracht hat: »Mein Herz tut weh, und dumpfe Starrheit preßt den Sinn ...«, »Sie wohnte, wo der Quell ertönt ...« und »Wüßt’ ich, Neigung, wer du seist?«
    Als diese absoluten Worte über Liebe und Schönheit und die Sehnsucht der Jugend die Hütte füllten, seufzte Blythe. Kurz darauf ging sein Atem unregelmäßig und mühsam, und er flüsterte: »Evelyn, bitte, lies das von Herrick vor.« Luton konnte das gesuchte Gedicht nicht gleich finden, und so blätterte Trevor mit zitternder Hand in den Seiten, suchte nach der Nummer 93 und fand schließlich die magischen sechs Zeilen:
    Wenn meine Julia geht einher seidengehüllt,
    Ja, dann dünkt mich, wie süß der Fluß,
    Der an ihr rinnt, von Kopf bis Fuß.
    Oh, wie dieses Glitzern mich erfüllt,
    Wenn drauf mein Blick fällt und ich seh’,
    Ihr stattlich’ Beben, Schopf bis Zeh.
    Als Luton seinen Vortrag beendet hatte, ergriff Trevor Carpenters Hand und flüsterte mit so schwacher Stimme, daß er kaum zu verstehen war: »Wenn wir wieder daheim gewesen wären, hatte ich die Absicht, mit deiner Kusine zu sprechen, Lady Julia. Bitte richte ihr das aus. Und mein ›Schatzkästlein‹ ... ich will, daß sie es bekommt.« Darauf drehte er seinen geschundenen Körper Luton zu: »O Evelyn, es tut mir so leid.«
    »Was tut dir leid?«
    »Daß ich dich im Stich lasse.« Seine Stimme war bereits farblos und dem Tod nah.
    »Denk nicht mehr daran!« entgegnete Luton bewegt und versuchte seine Gefühle zu verbergen. »Schlaf jetzt, und kurier dich aus.«
    Doch Trevor war nicht mehr zu retten. Der unbarmherzige Schlächter, Skorbut, hatte ihn bereits derart geschwächt, ihn aller Kraftreserven beraubt und das Vermögen zur Selbstheilung des Körpers so sehr zerstört, daß er zu nichts anderem mehr fähig war, als seine drei Gefährten verzweifelt anzuschauen und nach Luft zu ringen, obwohl er wußte, daß die kühle, klare Luft ihm kaum noch guttun konnte.
    Tapfer gegen den Verlust des Bewußtseins ankämpfend, reckte er sich, um Evelyns Hand zu ergreifen, was ihm nicht gelang, und mit Bestürzung mußte er sehen, wie seine eigene Hand matt auf die Decke zurückfiel. Im Wissen, daß er dem Tod nahe war, bemühte er sich mit kehligen Lauten, die keine geordneten Silben mehr bildeten, seinen Kameraden Lebewohl zu sagen, fiel zurück und drehte sein Gesicht mit einem allerletzten Kraftaufwand zur Wand, um ihnen den Anblick seiner Schmerzen zu ersparen. So ganz allein für sich schloß dieser einfühlsame junge Mann, dessen Leben so verheißungsvoll begonnen hatte, der seine Liebe nicht erklärt und seine Gedichte nicht geschrieben hatte, für immer die Augen.
    Wie im Vorjahr waren die letzten Februartage die reinste Hölle aus Eis, nur daß es diesmal zwischendurch keine frühlingshafte Unterbrechung gab. Ein Großteil des Elends rührte von der Tatsache, daß die Tage merklich länger wurden, doch das vollzog sich nur sehr langsam, und die anhaltende Kälte war so lähmend, daß es kaum zu ertragen war. Der Frühling war angekündigt, aber er kam nicht.
    Das Lagerleben ging seinen gewohnten Gang. Lord Luton

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