Knecht – Die Schattenherren II
den Raum hell genug, um den feinen Nebel erkennen zu lassen, der durch das große Fenster hereinkam. Ohne Hast, beinahe, als werde er vom Wind bewegt. Dünne, fast weiße Finger zunächst, dann Schwaden. So fein und durchsichtig wie Dunst über einer morgendlichen Weide. Man musste wissen, worauf man zu achten hatte, um den Unterschied zu sehen. Bei diesem Nebel gab es keine Fetzen, keine Teile, die sich gänzlich von der Hauptmasse lösten. Er war eine zerfaserte, aber zusammenhängende Wolke. Birra war längst jenseits des Verstehens und auch der Bewaffnete hatte keine Augen für das Phänomen, aber in Tinajis Gesicht sah Bren Erkennen. Sie mochte nicht wissen, was sie sah, aber sie ahnte es. Schließlich war sie den Schatten in der letzten Nacht nahe gewesen.
Betont lässig lehnte Bren den Hinterkopf an die Wand. »Habt Ihr Familie, Birra?«
»Ich … was? Wieso?«
»Erzählt mir von Euch. Wie ist das mit den Gildenmeisterinnen? Ich weiß nichts von Ejabon. Gibt es mehrere Gilden, und jede von Euch steht einer vor, oder ist es nur eine, die Ihr gemeinsam leitet?«
Der Nebel kroch an der Wand entlang, bedeckte sie wie Schimmel. Hinter Birras Rücken wallte er tiefer in das Zimmer, in dem er sich jetzt vollständig befand. Durch das Fenster kam nichts mehr nach. Er hätte sich wohl noch weiterverteilen, den gesamten Raum ausfüllen können. Stattdessen wurde er kompakter, zog sich zusammen, verlor an Transparenz.
»Nur eine. Die Gilde der Kaufleute von Ejabon.« Birra sprach wie im Schlaf. Ihre Arme sahen verkrampft aus, obwohl sie nicht mehr zitterten. Stattdessen schwankten sie vor und zurück wie Äste im Wind. Birra hatte etwas von einem Henker, der nach einem langen Arbeitstag erschöpft war, und sich mühen musste, sein Ziel zu treffen. Nur kniete kein Verurteilter zu ihren Füßen, stattdessen schimmerte die Elfenbeinkrone auf dem Tischchen vor ihr. »Es war einmal anders. Vor Jahrzehnten, da gab es die Kaufleute, die Seefahrer und die Schürfer. Aber so ist es nicht mehr. Schon lange …«
Der letzte Teil der Verwandlung vollzog sich sehr schnell. Wie beim Sand in einer Uhr, der auf dem letzten Zoll besonders rasch verrann. Der Nebel zog sich zu einem menschlichen Körper zusammen, Brust, Bauch, Kopf, Arme, Beine. Einen Wimpernschlag später bildeten sich die Finger mit den Krallen aus und die Züge des Gesichts. Es war Gadior, nicht Velon, der hier Gestalt annahm. Die gleichmäßige Färbung seines nackten Körpers war noch nicht ganz präsent, seine Haut noch wie mit Nebel überhaucht, als er schon um Birra herumgriff und ihre Arme packte.
Sie schrie auf und ließ den Leuchter fallen. Er prallte auf ihre Schulter und polterte dann zu Boden.
Der Armbrustschütze ruckte herum und löste seine Waffe aus. Mit dem Glück des Unfähigen jagte er den Bolzen inGadiors Seite.
»Fass!«, rief Bren und zeigte auf ihn. Sutor schoss vor. Noch bevor Bren auf den Beinen war, war der Armbruster es nicht mehr. Der schwarze Hund begrub ihn unter sich und verbiss sich in seinem Gesicht. Bren ging zu ihnen und schob Sutor zur Seite. Der Blutrausch erforderte eine deutliche Anweisung, damit das halbwilde Tier von seinem Opfer abließ.
Der Kopf des Mannes war entstellt, selbst seine Mutter hätte ihn nicht mehr erkannt. Er wollte die Hände davorschlagen, aber das Tasten an der Wunde musste ihm Schmerzen bereiten, sodass er es sich anders überlegte. Brens Morgenstern machte der Qual ein Ende.
Gadior hatte Birra neben Tinaji auf das Bett geschleudert und stand nun zwischen ihr und der Krone. Seine nackte Gestalt glich einer vollendeten Statue. Gut möglich, dass er den Steinmetzen von Karat-Dor Modell gestanden hatte, ein besseres hätten sie nirgendwo finden können. Nur die Narbe unter dem Brustkorb, wo sein Herz entnommen worden war, verschwand wohl niemals. Sie galt als Mahner, der jeden Osadro an seine Ergebenheit erinnerte.
Mit spitzen Fingern griff der Schattenherr nach dem kurzen Stück des Bolzens, das nicht in seinem Körper verschwunden war. Gleichmäßig ziehend holte er das Geschoss heraus. Seine Miene war eingefroren, das einzige Zugeständnis andie Schmerzen, die die Prozedur ihm verursachen mochte. Die Spitze war tückisch. Sie hatte drei Klingen, alle mit Widerhaken versehen, sodass sie auf dem Weg heraus die Wunde vergrößerte. Gadiors Blut war beinahe schwarz und floss so träge wie erkaltendes Wachs.
Er hielt den Bolzen am gestreckten Arm von sich und ließ ihn auf den Boden fallen.
Tinaji
Weitere Kostenlose Bücher